Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Geburtenüberschuß ziemlich obenan. Es wird nur 
übertroffen von Rußland (1899: 18,0), den Nie- 
derlanden (1904: 15,3), Serbien (1904; 19,1) 
und Bulgarien (1903: 18,3); am geringsten ist 
die natürliche Bevölkerungszunahme in Frankreich 
(1905: 0,9) und Irland (1905: 6,3) wegen der 
dortigen besonders niedrigen Geburtenzahl. In 
den beiden letzten Jahrzehnten hat die Auswan- 
derung aus Deutschland erheblich nachgelassen. Im 
letzten Jahrzehnt ist die Einwanderung sogar 
stärker gewesen als die Auswanderung. Trog# seiner 
starken natürlichen Volksvermehrung vermag das 
dichtbesiedelte Deutsche Reich infolge seines wirt- 
schaftlichen Aufschwungs noch einem beträchtlichen 
Zustrom fremder Bevölkerung Raum zu gewähren. 
Infolgedessen hat sich die Zahl der Ausländer 
im Reich von 1871 bis 1900 nahezu vervier- 
facht. Die Reichsausländer stammen zumeist (1900: 
97,2 % ) aus europäischen Staaten, auch Amerikaner 
aus den Vereinigten Staaten sind zahlreich ver- 
treten. Unter den Fremden waren, geordnet nach 
ihrer Anzahl, vorhanden: 
  
  
   
  
  
  
1871 1900 
(z*. —’ 
# 55 
4 5 5 
und Ungarn .75 70236,6 390 964 502 
....... 24518«11,9554947,1 
.22042I10,78808511,3 
........ 15163:7,3065653,4 
........ 4535;7,o469676,0 
Rotweäek 12845.6,0123371,6 
(B.t.).10698«5,2174192,2 
... 1054,9161302,1 
....... 50971 2,5121221,6 
...... 46712,3204782,6 
....... 401911,9697389,0 
Hervorzuheben ist besonders die sehr bedeutende 
Vermehrung der Italiener im Reich, deren Zahl 
seit 1871 von 4019 auf 69738 im Jahr 1900 ge- 
stiegen ist. Stark zugenommen haben auch die 
Osterreicher, Ungarn, Franzosen, Niederländer und 
in den letzten Jahren die Russen. 
Innerhalb der einzelnen Länder finden mehr 
oder weniger starke Binnenwanderungen 
statt. Eine erschöpfende direkte Erhebung der mit 
Wohnungswechsel verbundenen Wanderungen wird 
nur in Holland und Belgien vorgenommen, wo be- 
sondere Bevölkerungsregister geführt werden. In 
allen andern Staaten kann die Binnenwanderung 
nur indirekt erhoben werden, indem anläßlich der 
Volkszählungen der Geburtsort der anwesenden 
Bevölkerung festgestellt wird. Nach Juraschek (a. 
a. O. 255 ff) sind auf Grund zahlreicher statistischer 
Nachweise an der Binnenwanderung überaus große 
Bevölkerungsmassen beteiligt. In Österreich haben 
im abgelaufenen Jahrzehnt nahezu 30 % der Be- 
völkerung ihren Wohnsitz gewechselt und in Holland 
im Jahr 1900 mehr als 6%. Dabei überwiegt 
allerdings bei weitem die vorübergehende Wan- 
derung, wie aus den Daten über die Aufenthalts- 
dauer hervorgeht. Die Intensität der Wanderbewe- 
gung wird überall desto geringer, um je weitere 
Wanderungsziele es sich handelt; insbesondere beim 
weiblichen, aber auch beim männlichen Geschlecht 
überwiegt die Nahewanderung bei weitem die ent- 
ferntere Wanderung. Es find hauptsächlich die 
größeren Städte und Industriezentren, welche eine 
besondere Anziehungskraft auf die Bevölkerung 
Bevölkerung. 
  
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ausüben, während die Zuwanderung in die klei- 
neren Gemeinden viel mehr einen vorübergehenden 
Charakter trägt. Als befonders wichtige industrielle 
Zuwanderungsgebiete kommen in Österreich in erster 
Linie das nördliche Böhmen, die beiden Bezirke 
Ostrau-Freistadt, die südlich der Donau gelegenen 
östlichen Bezirke Niederösterreichs, die nördliche 
Steiermark und Vorarlberg in Betracht. In Deutsch- 
land bilden das Königreich Sachsen, Elsaß-Loth- 
ringen, Rheinland und Westfalen von jeher, Bran- 
denburg und Braunschweig seit den 1880er Jahren, 
Baden, Hessen-Nassau, Anhalt, Schleswig-Holstein, 
das Großherzogtum Hessen ohne Oberhessen, schließ- 
lich das rechtsrheinische Bayern ohne die drei frän- 
kischen Regierungsbezirke seit 1890 Zuwanderungs- 
gebiete. In den übrigen Teilen Deutschlands und 
Osterreichs überwiegt dagegen in der Regel die Ab- 
wanderung. Am beträchtlichsten ist der Bevölkerungs- 
austausch zwischen dem Osten und Westen des Deut- 
schen Reichs, und zwar ist der „Zug nach dem Westen“ 
vorherrschend. Aus dem Westen sind nach den Er- 
gebnissen der Volkszählung von 1900 664014 nach 
dem Osten gezogen, von Osten nach Westen dagegen 
1082 141. Der Austausch zwischen Westen und 
Süden ist nicht so bedeutend, übertrifft aber den 
zwischen Osten und Süden. Bei 26 von den 33 
Großstädten des Jahrs 1900 ist über die Hälfte der 
ortsanwesenden Bevölkerung aus andern Teilen des 
Reichs zugezogen. Alle Großstädte haben Wan- 
derungsgewinne zu verzeichnen. Er betrug über 
800000 in Berlin, über 2000000 in Hamburg und 
Münnchen, über 1000000 in Charlottenburg, Breslau, 
Frankfurt a. M., Köln, Nürnberg, Dresden und 
Leipzig, in allen Großstädten zusammen 3,5 Mill. 
Auch in Österreich richtet sich der Wanderstrom in 
erster Linie aus den weniger entwickelten slawischen 
Gegenden in deutsche Gebiete; die Zuwanderung 
nach den Industriebezirken Böhmens und Nieder- 
österreichs kommt vorwiegend aus den tschechischen 
Landesteilen, die nach Nordsteiermark und Vorarl-- 
berg zum großen Teil aus slowenischen bzw italie- 
nischen Bezirken. — Eine weitere Art von Binnen- 
wanderungen bilden schließlich die agrikolen 
Wanderungen aus agrarischen in andere Gebiete. 
Als lokale oder Nahwanderungen kamen sie auch 
schon in früheren Zeiten vor, als Fernwanderungen 
machten sie sich aber erst in größerem Umfang gel- 
tend, als der Zug in die Stadt und die Abwan- 
derung in die industriellen Bezirke in den kulturell 
fortgeschrittenen Gebieten die Landwirtschaft dieser 
Gebiete zwang, Wanderarbeiter zu verwenden. 
Diese wurden dann in den ärmeren, kulturell zu- 
rückgebliebenen Gebieten mit starker Bodenzersplit- 
terung angeworben. In Österreich kommen hierbei 
hauptsächlich die Wanderungen slowakischer Ar- 
beiter nach Böhmen und Mähren, polnischer Ar- 
beiter nach Ostgalizien, in Deutschland insbesondere 
die Sachsengängerei der polnischen Bevölkerung 
in Betracht, die bereits Ende der 1880er Jahre jähr- 
lich nahezu 1000000 Personen (zumeist jüngere Mäd- 
chen) umfaßte. Diese Wanderungen find aber nahe- 
zu ausschließlich nur zeitweiligen Charakters. 
II. Bevölkterungslehre. Wir haben uns 
nunmehr den Doktrinen zuzuwenden, welche 
sich mit dem in den bevölkerungsstatistischen Zahlen 
seit langer Zeit zum Ausdruck gelangenden Problem 
der Volksvermehrung befassen. Diese Tat- 
sache hat nicht nur die Aufmerksamkeit der Ge-
	        
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