Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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lehrten und Moralisten, sondern wegen ihrer weit- 
tragenden Bedeutung für das ganze Staats= und 
gesellschaftliche Leben von jeher natürlich auch die 
der Gesetzgeber erregt. 
Die folgende Darstellung soll die verschiedenen 
Bevölkerungstheorien, wie sie sich in historischer 
Aufeinanderfolge hervorgewagt haben, im einzelnen 
vor Augen führen. Die praktischen Versuche zur 
Lösung der Bevölkerungsfrage sind, wie so oft, 
älter als ihre erschöpfende wissenschaftliche Behand- 
lung, die dann später auf das engste mit den ge- 
setzlichen Maßnahmen, welche die Staatsregie- 
rungen auf diesem wichtigen Gebiet getroffen 
haben, verbunden erscheint. Es möge bezüglich 
der Zeiten des klassischen Altertums nur darauf h 
hingewiesen werden, daß die kleinen Staaten helle- 
nischen Stammes ihren Überfluß an Einwohnern 
durch eine trefflich organisierte Emigration abzu- 
leiten verstanden, während sich im römischen Welt- 
reich schon zur Zeit des Kaisers Augustus Er- 
scheinungen durchaus gegenteiliger Natur geltend 
zu machen begannen. Jene Scheu vor der Ehe 
und den mit dem Besitz von Kindern verbundenen 
Unbequemlichkeiten und Sorgen, welche den im 
raffinierten Genuß eines materiellen Wohllebens 
versunkenen und mit einer hochentwickelten, ihrem 
Wesen nach aber durchaus materialistisch veran- 
lagten Kultur ausgestatteten Völkern häufig eigen 
ist, hatte bereits einen derartigen Grad erreicht, 
daß die staatliche Gesetzgebung sich zum Ein- 
schreiten veranlaßt sah. Der erste römische Im- 
perator wandte sich gegen diese Abneigung der 
höheren Stände gegen das eheliche Leben, indem 
er 18 v. Chr. seine lex lulia de ordinibus 
maritandis erließ, welche später in einem nach 
den Konsuln Papius und Poppäus benannten 
Gesetz noch einen umfangreichen Nachtrag erhielt. 
Die Ehelosigkeit wurde durch diese Gesetzgebung 
mit Nachteilen bedroht; ebenso war die Unfrucht- 
barkeit der Ehen mit solchen verbunden. Dagegen 
wurden für fruchtbare Ehen verschiedene öffentlich- 
und privatrechtliche Vorteile in sichere Aussicht ge- 
stellt. Durch Adoptionen konnte man natürlich 
das Gesetz nicht umgehen. Aber wie es mit solchen 
Gesetzen zu geschehen pflegt, der Erfolg war kein 
durchschlagender. Jene Nachteile konnten abge- 
wendet und die Mehrzahl jener Vorteile erworben 
werden, wenn man vom Senat durch ein Privi- 
legium die Rechte derer erhielt, die Kinder hatten. 
Gesetze sind nur dann auf die Dauer wirksam, 
wenn sie mit der öffentlichen Meinung in Einklang 
stehen; die öffentliche Meinung der vornehmen 
Römer war aber zu jener Zeit über die Folgen 
der mangelhaften Vermehrung der herrschenden 
Klassen in keiner Weise beunruhigt. Eine eigent- 
liche Entvölkerung des römischen Reiches fand ja 
auch mit nichten statt. Die unterworfenen Na- 
tionen, die keine Widerstandskraft mehr besaßen, 
romanisierten sich und füllten die Lücken in der 
altrömischen Bevölkerung aus. Die Augusteische 
Ehegesetzgebung ist im wesentlichen erfolglos und 
  
Bevölkerung. 
  
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weit unwirksamer als spätere bevölkerungspolitische 
Maßnahmen restriktiver Natur geblieben, welche 
der Zeitepoche des werdenden oder auch noch des 
ausgebildeten modernen Staates angehören. 
Zwischen der Ehepolitik der neueren Zeit und 
jenem römischen Versuch, der, weil dem Weltreich 
angehörig, weit allgemeiner bekannt ist als die oft 
viel einschneidendere Ehegesetzgebung der späteren 
Zeit, liegt eine lange Periode, welche von einem 
svstematischen Eingreifen des Staates in die Be- 
völkerungspolitik wenig zu berichten weiß. Die 
Zeiten der altgermanischen Selbstherrlichkeit wären 
am wenigsten einem Eingreifen in die Freiheit der 
Cheschließung günstig gewesen. Auch die Kirche 
at, um die Moralität ihrer Angehörigen nicht zu 
gefährden, der Verehelichung, außer den früher 
sehr weitgehenden Ehehindernissen aus den ver- 
wandtschaftlichen Verbindungen, der Volksver- 
mehrung keine Schranken gesetzt. Im Gegenteil 
bezeugt das niedere Alter, in dem ihr Recht die 
jungen Leute zur Ehe zuläßt, wie sehr sie die von 
ihr zum Sakrament erhobene Verbindung hoch- 
hält. Zudem luden ja die Verhältnisse des Mit- 
telalters eher zu einer Begünstigung der Volks- 
zunahme als zu gegenteiligen Maßnahmen ein. 
Die Stürme der Völkerwanderung hatten die 
Länder Europas beinahe zur Wüste gemacht. Die 
vielen Kriege und das Fehdewesen, die fruchtbaren, 
noch unkultivierten Landstrecken boten ständigen 
Anreiz zur Gründung von Familien, um einerseits 
die durch die Verluste an Menschenleben entstan- 
denen Lücken auszufüllen und anderseits durch die 
Eröffnung neuer Produktionsgebiete die Zahl der 
Konsumtionsmittel zu vergrößern. Wohl hatte 
die Unfreiheit, in welcher viele Menschen damals 
lebten, naturgemäß eine Einwirkung der Grund- 
herren auf die Verehelichung zur Folge. Aber 
die soeben dargestellten Verhältnisse dürften die 
Grund= und Leibherren in den meisten Fällen 
veranlaßt haben, die Eheschließung ihrer Grund- 
holden viel mehr zu begünstigen als zu hindern. 
Und zudem erklärte Papst Hadrian IV. (1154/59) 
die Ehen der Unfreien für gültig, auch wenn die- 
selben der Einwilligung der Herren entbehrten. 
Es war also das ganze Mittelalter hindurch, 
namentlich aber, nachdem die ursprünglich wilden 
germanischen Sitten durch den Einfluß des Chri- 
stentums eine erhebliche Milderung erfahren hatten, 
den Verhältnissen der Zeit entsprechend für eine 
reichliche Vermehrung der europäischen Menschheit 
gesorgt. Hätten sich auch übertriebene Sorgen um 
das irdische Fortkommen wirklich geregt, wie dies 
bei der gewaltigen Zunahme der Kultur und der 
daraus sich ergebenden höheren Lebenshaltung in 
der zweiten Hälfte des Mittelalters, wenigstens 
in gewissen Gegenden, in den reichen italienischen 
Republiken, in den deutschen Hanse= und andern 
Städten, bei dem verwöhnten französischen Adel, 
leicht hätte der Fall sein können, so wäre die ener- 
gisch verwerfende Haltung der Kirche gegenüber 
der absichtlich herbeigeführten Sterilität wirksam
	        
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