865
erhebliche Bevölkerungszunahme genügend Raum
bot, vom staatsmännischen Standpunkt aus sehr
zweckmäßig waren, blieben denn auch nicht aus
und ermöglichten allen drei Staaten die Betä-
tigung einer energischen Großmachtspolitik und
insonderheit die Aufstellung zahlreicher Armeen.
Behufs Hebung und Vermehrung der Bevölke-
rungszahl wurde später auch in manchen Ländern
die Austeilung der Gemeindegüter, namentlich der
Gemeindeweiden betrieben, die allerdings nur
selten die erhofften Erfolge brachte.
Wenn wir uns nun im folgenden der Dar-
stellung der hauptsächlichsten Bevölkerungs-
theorien zuwenden, so ist in erster Linie Süß-
milch zu nennen. Haben auch früher schon be-
deutendere und scharfsinnigere Schriftsteller als
Süßmilch beiläufig die einschlägigen Bevölkerungs-
probleme behandelt, so war er doch der erste Be-
völkerungsschriftsteller, der als solcher die allge-
meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte und großen
Beifall erntete. Johann Peter Süßmilch (1707
bis 1767) hatte die gesamte nationalökonomische
und staatswissenschaftliche Literatur durchforscht
und die Resultate seiner Forschungen auf popu-
lationistischem Gebiet in seinem Werk „Die gött-
liche Ordnung in den Veränderungen des mensch-
lichen Geschlechts aus der Geburt, dem Tod und
der Fortpflanzung desselben erwiesen“ (2 Bde,
Berl. 1740, 1790/92) niedergelegt. Der naive
Optimismus, der aus diesem Werk spricht, muß
in Staunen setzen. „Die Sorge für die Ver-
mehrung der Volksmenge macht den Regenten zum
Vater, zum Hirten, zum Arzt, zu einem Gott auf
Erden. Der Regent muß demnach kein einziges
Mittel ungebraucht lassen, das zur Vermehrung
der Bevölkerung dienlich sein kann. Er muf alle
Hindernisse derselben aus dem Weg räumen, er
muß seinen Untertanen Unterhalt verschaffen und
der Armut möglichst widerstehen, damit alle die,
so heiraten können und wollen, daran nicht ge-
hindert werden, und daß es den Eltern eine Lust
sei, viele Kinder zu haben.“ Die Reaktion gegen
derartige Übertreibungen konnte aber auf die
Dauer nicht ausbleiben. Was in früheren Zeiten
verständige italienische und englische Schriftsteller
der ökonomischen Wissenschaften bereits über die
möglichen Gefahren eines zu schnellen Wachs-
tums der Bevölkerungszahl angedeutet hatten,
wurde in ausführlichen, mit wissenschaftlichen Be-
legen versehenen Darstellungen dem denkenden
Publikum von Malthus vor Augen geführt.
Thomas Robert Malthus (1766/1834) ist
durch seinen Essay on the Principle of Popu-
lation (Lond. 1798, "1826 lletzte von Malthus
besorgte Auflage], 101890; deutsch von Hege-
wisch 1807, von Stöpel 21900, von Dorn 1905)
einer der am heftigsten angegriffenen Okonomisten
und Sozialschriftsteller geworden, wie er auf der
andern Seite auch die eifrigsten Verteidiger ge-
funden hat. Gestützt auf umfassende Studien,
stellte er seine epochemachende Bevölkerungstheorie
Staatslexikon. I. 3. Aufl.
Bevölkerung.
866
auf, welche er auf die Verhältnisse des Altertums
wie auf diejenigen barbarischer Staaten und wilder
Völkerschaften anwendete, um die Wirkungen seines
Prinzips unter den verschiedensten Verhältnissen
zu probieren. Zwecks wissenschaftlicher Beobach-
tungen unternahm er auch große Reisen nach den
skandinavischen Staaten, nach Dänemark, Rußland,
der Schweiz und Savoyen. Seine Lehren gipfeln
in folgenden Sätzen: Das Elend der zahlreichen
mittellosen Bevölkerung, wie sie sich allenthalben
findet, rührt nicht sowohl von der schlechten Staats-
verfassung her, als deren Resultat es die Humani-
tätsschwärmer der zweiten Hälfte des 18. Jahrh.,
und allen voran J. J. Rousseau, darzustellen be-
liebten, sondern ist darauf zurückzuführen, daß sich
die Bevölkerung schneller vermehrt, als es die Zu-
nahme der zu ihrer Ernährung notwendigen Kon-
sumtionsmittel gestattet. Die Nahrungsmittel ver-
mehren sich nur in arithmetischer Progression, also
im Verhältnis von 1, 2, 3, 4 usw., während die Be-
völkerung die Tendenz hat, sich in geometrischer
Reihe, also im Verhältnis von 1, 2, 4, 8 usw., zu
vermehren, da nicht die vernünftige Uberlegung und
Berechnung die Volksmassen bei ihrer Reproduk-
tion leitet, sondern der natürliche Instinkt. Es
gibt also nur ein Mittel, die Volksmenge in dem
naturgemäßen, die Ernährung zulassenden Ver-
hältnis zur Menge der vorhandenen Nahrungs-
mittel zu erhalten, nämlich Elend und Laster mit
den daraus sich ergebenden restriktiven Konsequen-
zen. Die Menschheit hat nicht die Verpflichtung,
diejenigen Individuen, welche ihr nicht durch ihre
Arbeitsleistung Nutzen bringen, zu erhalten. Alle
von Staats wegen ergriffenen Maßregeln zur Ver-
mehrung der Bevölkerung sind unnütz und schäd-
lich; namentlich sind alle Armengesetze, wenn sie
den Armen von der Vorsicht im Heiraten und der
Kindererzeugung entbinden und diese Lasten der
Gesellschaft aufbürden, ein übel, das die Armut
vermehrt und verschlimmert. Für eine genügende,
mit den Nahrungsmitteln gleichen Schritt hal-
tende Bevölkerung hat die Natur selbst gesorgt;
der Staat hat nur gegen die Übervölkerung durch
Beschränkung leichtsinniger Eheschließungen und
durch vernünftige Armengesetze Vorsorge zu treffen.
Merkwürdig ist dabei, daß Malthus, der mit aller
Bestimmtheit das Naturgesetz der Vermehrung der
Bevölkerung über die ihr durch den verfügbaren
Nahrungsmittelvorrat gesteckten Grenzen hinaus
aufstellt, nichtsdestoweniger den Massen Vorsicht
in der Verehelichung anpreist. So sagt er außer an
verschiedenen andern Stellen seines Essay: „Das
ständige Streben der Population, sich über die
Subsistenzmittel hinaus zu vermehren, führt nicht
minder beständig dazu, die niederen Klassen der
Gesellschaft ins Elend zu stürzen, und steht jeder
Art von Verbesserung ihrer Lage entgegen.“ Und
weiter führt Malthus in demselben Sinn aus:
„Die Aufgabe der moralischen Selbstbeschränkung
wie die der repressiven Hindernisse ist keine andere
als diejenige, das Gesetz zur Ausführung zu
28