Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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erhebliche Bevölkerungszunahme genügend Raum 
bot, vom staatsmännischen Standpunkt aus sehr 
zweckmäßig waren, blieben denn auch nicht aus 
und ermöglichten allen drei Staaten die Betä- 
tigung einer energischen Großmachtspolitik und 
insonderheit die Aufstellung zahlreicher Armeen. 
Behufs Hebung und Vermehrung der Bevölke- 
rungszahl wurde später auch in manchen Ländern 
die Austeilung der Gemeindegüter, namentlich der 
Gemeindeweiden betrieben, die allerdings nur 
selten die erhofften Erfolge brachte. 
Wenn wir uns nun im folgenden der Dar- 
stellung der hauptsächlichsten Bevölkerungs- 
theorien zuwenden, so ist in erster Linie Süß- 
milch zu nennen. Haben auch früher schon be- 
deutendere und scharfsinnigere Schriftsteller als 
Süßmilch beiläufig die einschlägigen Bevölkerungs- 
probleme behandelt, so war er doch der erste Be- 
völkerungsschriftsteller, der als solcher die allge- 
meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte und großen 
Beifall erntete. Johann Peter Süßmilch (1707 
bis 1767) hatte die gesamte nationalökonomische 
und staatswissenschaftliche Literatur durchforscht 
und die Resultate seiner Forschungen auf popu- 
lationistischem Gebiet in seinem Werk „Die gött- 
liche Ordnung in den Veränderungen des mensch- 
lichen Geschlechts aus der Geburt, dem Tod und 
der Fortpflanzung desselben erwiesen“ (2 Bde, 
Berl. 1740, 1790/92) niedergelegt. Der naive 
Optimismus, der aus diesem Werk spricht, muß 
in Staunen setzen. „Die Sorge für die Ver- 
mehrung der Volksmenge macht den Regenten zum 
Vater, zum Hirten, zum Arzt, zu einem Gott auf 
Erden. Der Regent muß demnach kein einziges 
Mittel ungebraucht lassen, das zur Vermehrung 
der Bevölkerung dienlich sein kann. Er muf alle 
Hindernisse derselben aus dem Weg räumen, er 
muß seinen Untertanen Unterhalt verschaffen und 
der Armut möglichst widerstehen, damit alle die, 
so heiraten können und wollen, daran nicht ge- 
hindert werden, und daß es den Eltern eine Lust 
sei, viele Kinder zu haben.“ Die Reaktion gegen 
derartige Übertreibungen konnte aber auf die 
Dauer nicht ausbleiben. Was in früheren Zeiten 
verständige italienische und englische Schriftsteller 
der ökonomischen Wissenschaften bereits über die 
möglichen Gefahren eines zu schnellen Wachs- 
tums der Bevölkerungszahl angedeutet hatten, 
wurde in ausführlichen, mit wissenschaftlichen Be- 
legen versehenen Darstellungen dem denkenden 
Publikum von Malthus vor Augen geführt. 
Thomas Robert Malthus (1766/1834) ist 
durch seinen Essay on the Principle of Popu- 
lation (Lond. 1798, "1826 lletzte von Malthus 
besorgte Auflage], 101890; deutsch von Hege- 
wisch 1807, von Stöpel 21900, von Dorn 1905) 
einer der am heftigsten angegriffenen Okonomisten 
und Sozialschriftsteller geworden, wie er auf der 
andern Seite auch die eifrigsten Verteidiger ge- 
funden hat. Gestützt auf umfassende Studien, 
stellte er seine epochemachende Bevölkerungstheorie 
Staatslexikon. I. 3. Aufl. 
Bevölkerung. 
  
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auf, welche er auf die Verhältnisse des Altertums 
wie auf diejenigen barbarischer Staaten und wilder 
Völkerschaften anwendete, um die Wirkungen seines 
Prinzips unter den verschiedensten Verhältnissen 
zu probieren. Zwecks wissenschaftlicher Beobach- 
tungen unternahm er auch große Reisen nach den 
skandinavischen Staaten, nach Dänemark, Rußland, 
der Schweiz und Savoyen. Seine Lehren gipfeln 
in folgenden Sätzen: Das Elend der zahlreichen 
mittellosen Bevölkerung, wie sie sich allenthalben 
findet, rührt nicht sowohl von der schlechten Staats- 
verfassung her, als deren Resultat es die Humani- 
tätsschwärmer der zweiten Hälfte des 18. Jahrh., 
und allen voran J. J. Rousseau, darzustellen be- 
liebten, sondern ist darauf zurückzuführen, daß sich 
die Bevölkerung schneller vermehrt, als es die Zu- 
nahme der zu ihrer Ernährung notwendigen Kon- 
sumtionsmittel gestattet. Die Nahrungsmittel ver- 
mehren sich nur in arithmetischer Progression, also 
im Verhältnis von 1, 2, 3, 4 usw., während die Be- 
völkerung die Tendenz hat, sich in geometrischer 
Reihe, also im Verhältnis von 1, 2, 4, 8 usw., zu 
vermehren, da nicht die vernünftige Uberlegung und 
Berechnung die Volksmassen bei ihrer Reproduk- 
tion leitet, sondern der natürliche Instinkt. Es 
gibt also nur ein Mittel, die Volksmenge in dem 
naturgemäßen, die Ernährung zulassenden Ver- 
hältnis zur Menge der vorhandenen Nahrungs- 
mittel zu erhalten, nämlich Elend und Laster mit 
den daraus sich ergebenden restriktiven Konsequen- 
zen. Die Menschheit hat nicht die Verpflichtung, 
diejenigen Individuen, welche ihr nicht durch ihre 
Arbeitsleistung Nutzen bringen, zu erhalten. Alle 
von Staats wegen ergriffenen Maßregeln zur Ver- 
mehrung der Bevölkerung sind unnütz und schäd- 
lich; namentlich sind alle Armengesetze, wenn sie 
den Armen von der Vorsicht im Heiraten und der 
Kindererzeugung entbinden und diese Lasten der 
Gesellschaft aufbürden, ein übel, das die Armut 
vermehrt und verschlimmert. Für eine genügende, 
mit den Nahrungsmitteln gleichen Schritt hal- 
tende Bevölkerung hat die Natur selbst gesorgt; 
der Staat hat nur gegen die Übervölkerung durch 
Beschränkung leichtsinniger Eheschließungen und 
durch vernünftige Armengesetze Vorsorge zu treffen. 
Merkwürdig ist dabei, daß Malthus, der mit aller 
Bestimmtheit das Naturgesetz der Vermehrung der 
Bevölkerung über die ihr durch den verfügbaren 
Nahrungsmittelvorrat gesteckten Grenzen hinaus 
aufstellt, nichtsdestoweniger den Massen Vorsicht 
in der Verehelichung anpreist. So sagt er außer an 
verschiedenen andern Stellen seines Essay: „Das 
ständige Streben der Population, sich über die 
Subsistenzmittel hinaus zu vermehren, führt nicht 
minder beständig dazu, die niederen Klassen der 
Gesellschaft ins Elend zu stürzen, und steht jeder 
Art von Verbesserung ihrer Lage entgegen.“ Und 
weiter führt Malthus in demselben Sinn aus: 
„Die Aufgabe der moralischen Selbstbeschränkung 
wie die der repressiven Hindernisse ist keine andere 
als diejenige, das Gesetz zur Ausführung zu 
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