Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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auch über alle Schranken des Gesetzes hinaus- 
zuheben. Daß der Fürst an das göttliche Gesetz 
gebunden, daß er dem göttlichen Richter verant- 
wortlich ist, wird er nicht müde, seinem Schüler 
immer wieder und mit der ganzen Wucht seiner 
unerreichten Beredsamkeit zuzurufen, um es ihm 
tief in die Seele zu prägen. In seinem Lehrbuch 
nimmt das Kapitel von den Pflichten des Regenten 
keinen geringeren Raum ein als das von den 
Rechten desselben. Oh que la vie du Prince est 
sérieuse! ruft er aus, wo er seine trefflichen, sehr 
ins einzelne gehenden Lehren und Ratschläge ent- 
wickelt. Und ausdrücklich will er das unumschränkte 
königliche Regiment von Willkürherrschaft unter- 
schieden wissen (I.IV, a. 1). Das ist es, was ihn 
von Hobbes trennt, und nicht von ihm allein. 
Gleich zu Anfang wurde auf das Unzulängliche 
eines Standpunktes hingewiesen, welcher den Ab- 
solutismus in Gestalt des unumschränkten König- 
tums aufs heftigste bekämpft, ihn aber für un- 
gefährlich, ja ersprießlich hält, wo er in den For- 
men einer republikanischen Staatsverfassung oder 
einer konstitutionellen Monarchie auftritt. Unter 
den hervorragendsten Widersachern der Stuartschen 
Ansprüche und den ersten Begründern des moder- 
nen philosophischen Staatsrechts der Engländer 
pflegt neben Locke Algernon Sidney genannt 
zu werden. Sein Buch (Discourses concerning 
Government, Lond. 1698 lnach dem Tod des 
Verf.) u. ö., deutsch Leipzig 1794) ist eine weitläu- 
sige Bekämpfung der unbeschränkten Monarchie. 
Daf der König notwendig absolut sein müsse, weil 
er sonst aufhöre, König zu sein, wird darin als 
eine französische Lakaienmeinung bezeichnet. Aber 
A. Sidney ist weit davon entfernt, eine höhere 
objektive Norm anzuerkennen, an die die Staats- 
gewalt gebunden wäre. Wenn man ihm vorwerfe, 
ein Verteidiger der Willkürherrschaft (of arbi- 
trary powers) zu sein, so erklärt er, nicht zu 
wissen, wie eine Gesellschaft ohne solche bestehen 
könne. Die Begründung eines Staates, die Fest- 
stellung seiner Verfassung, die Einrichtung seiner 
Verwaltung, die gesamte Gesetzgebung sind ihm 
ebenso viele Willkürakte, und das Ausschlaggebende 
nur das, ob die Willkürgewalt, die allen Staaten 
gemein ist, zum Wohl der Bürger verwertet wird 
oder nicht. Aber wer entscheidet hierüber, wo 
liegt jedesmal das Interesse des Ganzen, wer hat 
recht, wenn im gegebenen Fall Meinung gegen 
Meinung steht? Wo ist der Schutz für die ein- 
zelnen oder die Minderheit gegen die Vergewalti- 
gung durch die jeweiligen Machthaber, deren freies 
Ermessen durch keine von ihrer Willkür unab- 
hängige Rechtsordnung eingeschränkt wird, gegen 
den Despotismus des Parteiregiments, der von 
allen Erscheinungsformen absoluter Herrschaft die 
gehässigste ist? Wenn, wie Sidney will, die un- 
beschränkte Monarchie durch die Republik ersetzt 
werden soll, so sind damit noch lange nicht Recht 
und Freiheit der Bürger gegen die erdrückende Uber- 
macht des unperfönlichen Staates gesichert. 
Absolutismus. 
  
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Das gleiche gilt gegen Rousseaus viel- 
bewunderte Lehre. Die vollkommenste Durchfüh- 
rung des demokratischen Prinzips enthält für sich 
allein noch nicht die Beseitigung des Absolutis- 
mus. Der Wille der Gesamtheit, in dem jeder 
einzelne seinen Willen wiederfindet, wird in den 
meisten Fällen eine bloße Fiktion bleiben. Die 
Willensäußerung des sopveränen Volkes schafft 
mit dem Gesetz das Recht, aber wenn es hierin 
völlig frei schalten kann, losgelöst von jedem all- 
gemein gültigen und unveränderlichen Maß der 
Gerechtigkeit, so wird das vermeintliche Recht in 
Wahrheit nur das Machtgebot sein, welches der 
stärkere Teil dem schwächeren auferlegt. Es ist 
längst dafür gesorgt, daß die Kritik hier nicht bei 
selbstgezogenen Konsequenzen stehen bleiben muß. 
Die französische Revolution, durch Rousseausche 
Ideen vorbereitet, hat in der Schreckensherrschaft 
des Konvents diese Ideen auf blutige Weise ad 
absurdum geführt. Und daß eine Verwirklichung 
des kommunistischen Volksstaates, im Namen der 
Freiheit und Gleichheit unternommen, in Wahr- 
heit den Tod der Freiheit und jeden eigenen Rechts, 
die Errichtung einer allgemeinen Zwangsanstalt 
bedeuten müßte, wo die Gleichheit der Bürger in 
Arbeit und Genuß nur dadurch aufrecht erhalten 
werden könnte, daß die Staatslenker mit geradezu 
ungeheuerlichen Machtbefugnissen ausgerüstet wür- 
den, wer wollte dies im Ernst bestreiten? Aber 
auch ganz abgesehen von den extremen Ausge- 
staltungen, zu welchen die Geschichte hingeführt hat 
oder welche die Zukunft befürchten läßt, ist denn 
in denjenigen Staaten der Neuzeit, in denen die 
sog. liberalen Prinzipien zur Herrschaft gelangt 
und der Macht des Staatsoberhaupts enge Grenzen 
gezogen sind, ist in ihnen wirklich überall der Ab- 
solutismus überwunden? Sicherlich nicht, wo“ 
ausdrücklich oder stillschweigend jene Voraussetzung 
herrscht, welche die Hegelssche Philosophie auf 
ihre Formel gebracht hat, vom Staat als der 
Quelle alles Rechts. Der Zauber, welcher früher 
in Deutschland dem Hegelschen System anhaftete, 
ist längst gewichen, die Abstraktionen, mit denen 
es operierte, und die Art des Operierens selbst 
haben ihren Reiz verloren; Sätze wie der, daß der 
Staat die Wirklichkeit der sittlichen Idee sei, haben 
heutzutage nur noch die Bedeutung historischer 
Kuriositäten. Aber der Kern, die Loslösung des 
unpersönlichen Staatsmechanismus von jeder hö- 
heren Rechtsordnung, ist geblieben. Wenn es ge- 
nügt, daß ein Gesetz die Zustimmung der ver- 
fassungsmäßigen Faktoren erhalten hat, um ihm 
den Charakter wirklichen, verbindlichen Rechts zu 
verleihen, dann verschwindet vor der Souveränität 
der Gesetzgebung — das Wort ist von Bismarck 
geprägt worden — jedes eigene Recht der Indi- 
viduen wie der Korporationen, dann kann, wer 
„die Klinke der Gesetzgebung in der Hand hat“, 
seinen Willen der machtlos opponierenden Minder- 
heit im Namen des omnipotenten Staates auf- 
drängen, dann gilt gegenüber dem Gesetz als dem 
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