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mäßigen Gesundheits-, Sitten· und Wohlfahrts-
polizei und durch weise Gesetze, welche die Er-
haltung der Familie und des Familiengeistes
mittels geeigneter Reglung des Erbfolgerechts
sichern u. dgl., seine Pflicht und Schuldigkeit tut:
so werden sich die Jahre des Stillstands, des Nie-
dergangs oder Krisen wie bisher immer überwin-
den lassen, namentlich wenn außerdem in ratio-
neller Weise eine Auswanderungsbewegung ins
Leben gerufen und im Interesse des Mutterlands
geleitet wird. — Das sog. Malthussche Bevölke-
rungsgesetz entbehrt also in seiner allgemeinen
Form der Begründung, da es gewisse unheilvolle
Erscheinungen im Leben der Menschheit, die hin
und wieder vorzukommen pflegen, verallgemeinert
und mit naturgesetzlichem Charakter bekleidet, ohne
einen genügenden Beweis für die Richtigkeit dieses
Verfahrens zu erbringen. Nichtsdestoweniger darf
die Bewunderung, welche Malthus in so hohem
Maß zuteil geworden ist, insofern nicht als un-
gerechtfertigt bezeichnet werden, als er gegenüber
dem flachen Optimismus des 18. Jahrh. auf
die ernsten Gefahren einer künstlichen Heran-
züchtung großer Bevölkerungsmassen, überhaupt
eines zu schnellen Anwachsens derselben aufmerk-
sam gemacht hat.
An Malthus hat sich alsbald eine Schule von
Anhängern gereiht, welche dessen System weiter
ausgebaut und ergänzt haben. Unter den Vertre-
tern dieser sog neomalthusianischen Schule
ragt insbesondere der bekannte Nationalökonom
John Stuart Mill hervor. Seine Begründung
der Malthusschen Bevölkerungslehre läuft darauf
hinaus, daß bei dem Ackerbau, sobald er auf eine
bestimmte Stufe der Entwicklung gebracht sei,
durch doppelte Arbeit sich nicht mehr ein doppelter
Ertrag erzielen lasse. Daraus ergibt sich dann mit
Notwendigkeit die weitere Konsequenz, daß, nach-
dem diese Grenze überschritten ist, für die acker-
bautreibende Bevölkerung, die sich in einem all-
zu starken Maß vermehrt, die Früchte ihrer Ar-
beit nicht mehr zu ihrem Unterhalt ausreichen.
Wenn diese Ausführungen im allgemeinen auch
zutreffend sein mögen, so muß auf der andern
Seite doch stets im Auge behalten werden, daß
die Vermehrung der Bevölkerung nicht eine blinde
und notwendig über das durch die konkreten
Verhältnisse gebotene Maß hinausgehende ist.
IJ. St. Mill fühlt dies auch. Denn obgleich
überzeugter Malthusianer, mahnt er die arbeiten-
den Klassen zur Enthaltsamkeit, während er sie
gleichzeitig auf die Auswanderung hinweist und
die gegenwärtige Form des industriellen Betriebs
durch die der Produktivgenossenschaften ersetzt
wissen will. In seiner Bevölkerungspolitik geht
er also weit über Malthus hinaus, der alles von
der Weisheit der Massen verlangt, aber nichts
davon erwartet. Ubrigens verlangte J. St. Mill
auch Zwangsmaßregeln gegen die übermäßige
Kindererzeugung (Principles of Political Eco-
nomy II, chap. 13, 8 2).
Bevölkerung.
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Bedenklicher erscheinen die Theorien einer An-
zahl anderer Verfechter der Lehren dieser Schule.
Um die Bevölkerungszunahme in Einklang mit
der Vermehrung der Lebensmittel zu bringen,
werden von diesen Leuten die unmoralischsten
Mittel zur Anwendung empfohlen, wodurch der
ganze Malthusianismus vielfach in Mißkredit
gekommen ist. Wir müssen uns an dieser Stelle
mit der kurzen Erwähmug eines Werks begnügen,
das zwar durchaus verwerflich in seiner Tendenz,
doch von einer warmen Teilnahme für die Inter-
essen der niedern Schichten des Volks erfüllt ist
und wenigstens zum Teil erwähnbare Ideen ent-
wickelt. Es ist dies das Buch eines englischen
Arztes: „Die Grundzüge der Gesellschaftswissen-
schaft oder physische, geschlechtliche und natürliche
Religion. Eine Darstellung der wahren Ursache
und Heilung der drei Grundübel der Gesellschaft:
der Armut, der Prostitution und der Ehelosig-
keit" (21876). Der Verfasser lehrt die Unentbehr=
lichkeit des geschlechtlichen Verkehrs für die Ge-
sundheit und Tugendhaftigkeit der Menschen und
empfiehlt die Prävention. Außerdem aber plä-
diert er für die Auflösbarkeit der Ehe und die
völlige Emanzipation der Frauen. Auf den ersten
Punkt braucht hier nicht näher eingegangen zu
werden, da jene Behauptungen schon längst durch
eine Reihe von hervorragenden ärztlichen Autori-
täten widerlegt sind. Was sodann die Auflös=
barkeit der Ehe anlangt, so erscheint es uner-
findlich, welche Wirkungen dieselbe auf eine
Regulierung des Bevölkerungszuwachses ausüben
könnte. Die Frauenemanzipation würde aller-
dings, indem sie eine große Anzahl von Personen
des weiblichen Geschlechts erwerbsfähig und selb-
ständig macht, deren Heiratslust erheblich ab-
schwächen. Es würde eine solche soziale Umwäl-
zung aber zugleich viele Männer erwerbsunfähig
machen und an der Eheschließung hindern, also,
wenn auch vielleicht die Bevölkerungsvermehrung
beschränken, jedenfalls demoralisierend wirken.
Ein 1908 erschienenes, von J. Rutgers unter
dem Titel „Rassenverbesserung. Malthusianis-
mus und Neumalthusianismus“ verfaßtes Buch
tritt ebenfalls entsprechend der modernen Zeit-
strömung für eine zweckmäßige Beschränkung der
Kinderzahl durch den Gebrauch von Präventiv=
mitteln ein. Wenn jedoch diese materialistischen,
von einer übertriebenen Rücksicht auf die wirt-
schaftlichen Verhältnisse beherrschten Lehren in
weiteren, namentlich auch ländlichen und Arbeiter-
kreisen Verbreitung und Anwendung fänden, so
könnte leicht, wie die Zustände Frankreichs zeigen,
eine Haltung im ehelichen Leben sowie hinsicht-
lich der Verehelichung überhaupt eintreten, welche
mit den schwersten sittlichen Gefahren verbunden
wäre.
Wir haben uns nunmehr einer andern Gruppe
von Bevölkerungstheoretikern zuzuwenden, welche,
von wesentlich optimistischen Ansichten be-
seelt, der Entwicklung der Bevölkerungsverhält-
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