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schriftsteller (Bertillon, Del Vecchio, Rubin und
Westergaard, Verrijn Stuart, Tallquist, S. und
B. Webb, Paul Leroy-Beaulieu, Fahlbeck, Mom-
bert) über den Zusammenhang von Wohlstand
und Fruchtbarkeit vorgenommenen Untersuchungen
haben ergeben, daß mit steigendem Wohlstand und
höherer sozialer Stellung die Fruchtbarkeit ge-
ringer wird. Die letzten Jahrzehnte haben allent-
halben das Kausalverhältnis zwischen Besserung
der Lebensbedingungen und Zunahme der Ge-
burtenziffer als das Umgekehrte des von Malthus
Gelehrten erwiesen. Insbesondere gilt dies für
das Deutsche Reich; der großartige wirtschaftliche
Aufschwung, den es seit den 1870er Jahren zu
verzeichnen hat, ist zwar von einer außerordent-
lichen Zunahme der Bevölkerung begleitet ge-
wesen; aber dieses Wachstum hat nicht stattge-
funden bei einer Steigerung, sondern bei Ab-
nahme der Geburtenziffer und noch größerer Ver-
minderung der Sterbeziffer. Die gleiche Tatsache
trifft auch für die übrigen europäischen Kultur-
staaten, namentlich Frankreich und England, zu.
Nur wo eine Bevölkerung wirtschaftlich sehr tief
steht, führt die Verbesserung der Lebensverhältnisse
zu einer Steigerung der Geburtenzahl; da geht die
Bevölkerungszunahme vor sich bei hoher Sterbe-
ziffer, aber noch größerer Geburtenziffer. Wäh-
rend in Deutschland der Rückgang der Geburten-
ziffer in den Städten größer ist als auf dem Land,
verhält sich die Sache in den beiden andern ge-
nannten Ländern, namentlich soweit die groß-
industrielle Arbeiterschaft mancher Städte und De-
partements in Betracht kommt, umgekehrt.
Wie bisher, so wird sich auch in Zukunft das
Wachstum der Bevölkerung in erster Linie nach den
vernünftigen Entschließungen des Menschen rich-
ten, für welche außer den wirtschaftlichen Ver-
hältnissen in weitem Umfang das Vorhandensein
christlichen Sinns und christlicher Sitte maßgebend
ist, oder von einseitiger Berücksichtigung des mate-
riellen Wohlergehens in einschränkendem Sinn
bedingt werden, oder endlich, wenn Bildung und
Charakter wieder einmal auf ein niederes Niveau
sinken sollten, sich schrankenlos und unvernünftig
vollziehen, bis die von Malthus in Aussicht ge-
stellten Folgen des Elends und Lasters ihre trau-
rige Gegenwirkung vollbringen. Von einem ein-
heitlichen Bevölkerungsgesetz kann also so wenig
für die Zukunft als für die Vergangenheit die
Rede sein. Alle das Geschick der Menschheit in
aufsteigender wie in absteigender Richtung be-
wegenden Faktoren bestimmen auch die Bevölke-
rungsentwicklung. Im großen und ganzen wird
aber auch hier das religös-sittliche Prinzip,
das sich noch stets auf allen Gebieten des mensch-
lichen Lebens als wirksam erwiesen hat und dem
einzelnen weise Selbstbeherrschung vorschreibt, den
das öffentliche Leben beherrschenden Faktoren aber
eine möglichst gerechte Ordnung der sozialen und
wirtschaftlichen Verhältnisse auf gesetzlichem Weg
zur Pflicht macht, ausschlaggebend sein und die
Bevölkerung.
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Gestaltung der Populationsbewegung durch sein
Vorwiegen in gutem, durch sein Zurücktreten in
ungünstigem Sinn beeinflussen.
III. Bevölkerungspolititt. Was die von
den einzelnen Staaten einzuschlagende Bevölke-
rungspolitik anlangt, so können natürlich all-
gemein verbindliche Normen in dieser Hinsicht nicht
aufgestellt werden. Diese müssen sich vielmehr nach
Lage der bestehenden Verhältnisse verschieden ge-
stalten. Wenn ein Land noch bedeutende unent-
wickelte Hilfsmittel besitzt, wird es naturgemäß
die Aufgabe der Staatsregierung sein, je nach
Lage der Umstände, der natürlichen Bedingungen
des Landes, der Begabung seiner Bewohner, der
Verhältnisse des Welkmarkts usw. sich die Hebung
und Förderung der Volkszahl durch Begünstigung
dieses oder jenes Produktionszweigs angelegen
sein zu lassen. Eventuell wird dieselbe auch den
Zugang zu gewissen Beschäftigungen und Berufen
zu erleichtern haben, indem sie unter möglichster
Schonung der Rechte und Existenz anderer die
Zulassungsbedingungen, von denen die Ausübung
der betreffenden Tätigkeit abhängt, mildert oder
unter Umständen auch aufhebt. Wenn die Ver-
mehrung der Bevölkerung aber in so rapider Weise
stattfände, daß in absehbarer Zeit eine wirkliche
Übervölkerung zu befürchten wäre, so muß in ener-
gischerer oder zurückhaltenderer Weise dem Eintritt
einer solchen Katastrophe vorgebeugt werden durch
Maßnahmen einer zweckmäßig einzuleitenden Ko-
lonialpolitik, wo die Verhältnisse eine solche ge-
statten, oder durch eine sonstige geeignete Orga-
nisierung und Leitung der Auswanderungsbewe-
gung, damit etwaigen Gefahren, ohne die Frei-
heit des einzelnen und die Interessen des Landes
zu schädigen, rechtzeitig mit Erfolg begegnet wer-
den kann. Indirekt wirkt der Staat durch seine
Ehegesetzgebung, sein Gewerbe= und Zugrecht,
seine Armenpolitik, sein Sanitätswesen und seine
Militäreinrichtungen in nachhaltiger Weise auf
den Gang und Stand der Bevölkerung ein. Eine
Heraushebung und Abgrenzung der eigentlichen
bevölkerungspolitischen Tätigkeit des Staats ist
jedoch nicht immer vollkommen möglich, da diese
aus sehr verschiedenen Interessenkreisen hervorgeht
und ihren Ursprung einerseits religiös-sittlichen,
anderseits militärischen, fiskalischen und sozial-
politischen Gesichtspunkten ihren Ursprung ver-
dankt. Zur Erkenntnis dieses Zusammenhangs ist
man erst in neuerer Zeit gelangt, was schon aus
dem Fehlen jeglicher statistischer Grundlagen her-
vorgeht.
Die Zählungen, von denen uns aus dem
Altertum berichtet wird (David, Nerxes, Augustus),
waren nicht aus wirtschaftlichen Gründen unter-
nommen worden, sondern dienten der Steuer-
erhebung oder hatten kriegerische Zwecke oder
waren von Priestern geführte Chroniken. Auch
aus dem Mittelalter und der neueren Zeit bis
Ende des 18. Jahrh. liegen wenig zuverlässige
Zählergebnisse für ganze Völker vor, wodurch die