Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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„öffentlichen Gewissen“ die Berufung auf das 
eigene Gewissen als Frevel der Revolution. Der 
sog. Kulturkampf im Deutschen Reich und in 
Preußen wäre nicht möglich gewesen, wären nicht 
die Vertreter der Regierungen und die Mitglieder 
der liberalen Kammermajoritäten gleichmäßig in 
den Ideen des Staatsabsolutismus befangen ge- 
wesen, so daß kein Ausdruck zu stark und keine 
Maßregel allzu rücksichtslos erschien, das aus- 
schließliche Recht des Staates der katholischen 
Kirche gegenüber zur Geltung zu bringen. Und 
nur eine andere Erscheinungsform des gleichen Ab- 
solutismus ist die neueste Phase in unserem poli- 
tischen Leben: der Staatssozialismus. Seine 
Parteigänger fragen nicht nach den Grenzen, 
welche bestehende, vom Staat unabhängige Rechte 
der staatlichen Gesetzgebung ziehen. Jeder Ein- 
griff in das Wirtschaftsleben, jede willkürliche Ver- 
schiebung seiner Faktoren gilt als gerechtfertigt, 
wenn sie Vermehrung der Macht des Ganzen 
verspricht. 
Man wird Absolutisten der älteren Zeit, wie 
Bossuet, gerechter, wenn man Tendenzen dieser 
Art zum Vergleich heranzieht. Bossuet kennt ein 
von dem Ermessen des Staatsoberhauptes unab- 
hängiges höheres Gesetz; eben dies leugnen die 
in dem entgegengesetzten Lager Stehenden, und sie 
müssen darum ihrerseits als Vertreter des Staats- 
absolutismus angesehen werden. Aber Bossuet 
irrt nicht nur, wenn er glaubt, daß moralische 
Erwägungen allein auf die Dauer ausreichen 
könnten, Fürsten, in deren Hand alle Machtmittel 
vereinigt sind, an der Übertretung jenes Gesetzes 
zu hindern. Auch in der von ihm vertretenen 
Gestalt, welche ihm seine schärfste Spitze nimmt, 
widerstreitet der Absolutismus der berechtigten 
Denkweise eines in der Gesittung vorangeschrit- 
tenen Volkes, geschweige denn, daß der Anspruch 
gerechtfertigt wäre, in ihm das ein für allemal 
gültige Prinzip der monarchischen Verfassung zu 
sehen. Dies führt zuletzt auf eine Erörterung von 
mehr prinzipieller Art. 
In die grundlegenden Erörterungen über Zweck 
und Ursprung des Staates kann natürlich in diesem 
Zusammenhang nicht ausführlich eingegangen 
werden; dieselben sind besondern Artikeln vor- 
behalten (vgl. insbesondere die Art. Staat, Staats- 
gewalt, Garantien, staatsrechtliche, usw.). Als 
feststehende Voraussetzung aber gelte hier, daß 
dasjenige, was den Staat zum Staat macht, was 
ihn von jeder andern gesellschaftlichen Organi- 
sation unterscheidet, seine Beziehung zur Rechts- 
ordnung istz in der fortschreitenden Verwirklichung 
derselben innerhalb eines bestimmten Menschheits- 
komplexes besteht sein Beruf. Alle übrigen staat- 
lichen Funktionen sind sekundärer Art, wie die 
Wohlfahrtspflege, oder sie beziehen sich auf die 
Mittel, welche der Bestand und die Aufrecht- 
erhaltung des Staatswesens erheischt. Nun lehrt 
freilich die Geschichte, daß es einer langen und 
langsamen, durch Perioden des Stillstandes und 
Absolutismus. 
  
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vollkommene Rückschläge unterbrochenen Entwick- 
lung bedurfte, um diese Erkenntnis vom Beruf 
des Staates allgemein zum Bewußtsein zu bringen. 
Ein Beweis gegen ihre Wahrheit läßt sich daraus 
nicht entnehmen, jener Vorbehalt bestätigt viel- 
mehr, daß staatliches Zusammenleben keine will- 
kürliche Erfindung ist, sondern die menschliche 
Natur selbst ursprünglich und unwiderstehlich dazu 
treibt und dahin führt, daß aber auch hier das 
allgemeine Gesetz des Werdens gilt, demzufolge 
vollendete Ausgestaltung das Ziel und nicht den 
Ausgang bildet. Unentbehrliche Voraussetzung 
jedes staatlichen Lebens aber ist die Anerkennung 
einer Autorität, eines Oberhauptes also, dem die 
sämtlichen Glieder unterworfen sind, mag dasselbe 
nun ein einzelner, ein Fürst, oder eine Mehrheit, 
eine regierende Versammlung sein. Darum ist 
jede Familie, jedes Hauswesen, wo Weib, Kinder 
und Gesinde der Autorität des Hausvaters unter- 
worfen sind, ein Vorbild des Staates und eine 
natürliche Vorschule für denselben. Aber auch 
nicht mehr. Der Staat beginnt erst, wo die 
Autorität des Oberhauptes anerkannt ist über den 
engsten Familienzusammenhang hinaus und un- 
abhängig von den Empfindungen natürlicher Liebe 
und pietätvoller Unterwerfung, wie sie das Herz 
der Kinder gegen den Vater erfüllen. Trotzdem 
wird er, eben weil die Familie Vorbild ist, in 
jenem frühesten Stadium wohl überall die Form 
des patriarchalischen Königtums an sich getragen 
haben. Und warum sollte nicht wirklich in ein- 
zelnen Fällen der Patriarch, das hochbejahrte 
Familienhaupt, als König über den Stamm ge- 
herrscht haben, zu dem die Familie sich erweitert 
hatte? Ließ dann sein Tod die Stelle leer, zu der 
sämtliche Stammesangehörige in ehrfürchtiger 
Unterwerfung aufzublicken gewohnt waren, so 
mußte ebenso allgemein das Bedürfnis eines Er- 
satzes empfunden werden, und unschwer wird man 
sich nun weiter ausdenken können, wie psycholo- 
gische Motive im Verein mit andern Faktoren es 
selbstverständlich machten, daß der älteste Sohn 
Nachfolger des Patriarchen und das Königtum 
in seinem Hause erblich wurde. Wo aber etwa 
aus freier Wahl aller waffenfähigen Männer der 
König hervorging, da waren es, wiederum selbst- 
verständlich, die persönlichen Eigenschaften, wo- 
durch der Erwählte die andern übertraf, seine 
Kraft und Gewandtheit, seine Einsicht und Er- 
fahrung, seine Uneigennützigkeit und Gerechtigkeit, 
welche dazu bestimmten, ihn über die andern zu 
erheben. Nun ist es natürlich einem jeden un- 
benommen, sich die Verhältnisse jener Urzeit so 
idyllisch oder so erhaben auszumalen, wie es dem 
Zug seiner Phantasie entspricht: der König alle 
übrigen Männer um Haupteslänge überragend, 
seine Stärke und Tapferkeit der Schrecken der 
Feinde, seine List und Verschlagenheit jeder Fähr- 
lichkeit gewachsen, unbestechlich seine Gerechtigkeit, 
wenn er auf dem Throne sitzend Streit entscheidet 
oder Strafe über die Friedensstörer verhängt!
	        
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