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„öffentlichen Gewissen“ die Berufung auf das
eigene Gewissen als Frevel der Revolution. Der
sog. Kulturkampf im Deutschen Reich und in
Preußen wäre nicht möglich gewesen, wären nicht
die Vertreter der Regierungen und die Mitglieder
der liberalen Kammermajoritäten gleichmäßig in
den Ideen des Staatsabsolutismus befangen ge-
wesen, so daß kein Ausdruck zu stark und keine
Maßregel allzu rücksichtslos erschien, das aus-
schließliche Recht des Staates der katholischen
Kirche gegenüber zur Geltung zu bringen. Und
nur eine andere Erscheinungsform des gleichen Ab-
solutismus ist die neueste Phase in unserem poli-
tischen Leben: der Staatssozialismus. Seine
Parteigänger fragen nicht nach den Grenzen,
welche bestehende, vom Staat unabhängige Rechte
der staatlichen Gesetzgebung ziehen. Jeder Ein-
griff in das Wirtschaftsleben, jede willkürliche Ver-
schiebung seiner Faktoren gilt als gerechtfertigt,
wenn sie Vermehrung der Macht des Ganzen
verspricht.
Man wird Absolutisten der älteren Zeit, wie
Bossuet, gerechter, wenn man Tendenzen dieser
Art zum Vergleich heranzieht. Bossuet kennt ein
von dem Ermessen des Staatsoberhauptes unab-
hängiges höheres Gesetz; eben dies leugnen die
in dem entgegengesetzten Lager Stehenden, und sie
müssen darum ihrerseits als Vertreter des Staats-
absolutismus angesehen werden. Aber Bossuet
irrt nicht nur, wenn er glaubt, daß moralische
Erwägungen allein auf die Dauer ausreichen
könnten, Fürsten, in deren Hand alle Machtmittel
vereinigt sind, an der Übertretung jenes Gesetzes
zu hindern. Auch in der von ihm vertretenen
Gestalt, welche ihm seine schärfste Spitze nimmt,
widerstreitet der Absolutismus der berechtigten
Denkweise eines in der Gesittung vorangeschrit-
tenen Volkes, geschweige denn, daß der Anspruch
gerechtfertigt wäre, in ihm das ein für allemal
gültige Prinzip der monarchischen Verfassung zu
sehen. Dies führt zuletzt auf eine Erörterung von
mehr prinzipieller Art.
In die grundlegenden Erörterungen über Zweck
und Ursprung des Staates kann natürlich in diesem
Zusammenhang nicht ausführlich eingegangen
werden; dieselben sind besondern Artikeln vor-
behalten (vgl. insbesondere die Art. Staat, Staats-
gewalt, Garantien, staatsrechtliche, usw.). Als
feststehende Voraussetzung aber gelte hier, daß
dasjenige, was den Staat zum Staat macht, was
ihn von jeder andern gesellschaftlichen Organi-
sation unterscheidet, seine Beziehung zur Rechts-
ordnung istz in der fortschreitenden Verwirklichung
derselben innerhalb eines bestimmten Menschheits-
komplexes besteht sein Beruf. Alle übrigen staat-
lichen Funktionen sind sekundärer Art, wie die
Wohlfahrtspflege, oder sie beziehen sich auf die
Mittel, welche der Bestand und die Aufrecht-
erhaltung des Staatswesens erheischt. Nun lehrt
freilich die Geschichte, daß es einer langen und
langsamen, durch Perioden des Stillstandes und
Absolutismus.
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vollkommene Rückschläge unterbrochenen Entwick-
lung bedurfte, um diese Erkenntnis vom Beruf
des Staates allgemein zum Bewußtsein zu bringen.
Ein Beweis gegen ihre Wahrheit läßt sich daraus
nicht entnehmen, jener Vorbehalt bestätigt viel-
mehr, daß staatliches Zusammenleben keine will-
kürliche Erfindung ist, sondern die menschliche
Natur selbst ursprünglich und unwiderstehlich dazu
treibt und dahin führt, daß aber auch hier das
allgemeine Gesetz des Werdens gilt, demzufolge
vollendete Ausgestaltung das Ziel und nicht den
Ausgang bildet. Unentbehrliche Voraussetzung
jedes staatlichen Lebens aber ist die Anerkennung
einer Autorität, eines Oberhauptes also, dem die
sämtlichen Glieder unterworfen sind, mag dasselbe
nun ein einzelner, ein Fürst, oder eine Mehrheit,
eine regierende Versammlung sein. Darum ist
jede Familie, jedes Hauswesen, wo Weib, Kinder
und Gesinde der Autorität des Hausvaters unter-
worfen sind, ein Vorbild des Staates und eine
natürliche Vorschule für denselben. Aber auch
nicht mehr. Der Staat beginnt erst, wo die
Autorität des Oberhauptes anerkannt ist über den
engsten Familienzusammenhang hinaus und un-
abhängig von den Empfindungen natürlicher Liebe
und pietätvoller Unterwerfung, wie sie das Herz
der Kinder gegen den Vater erfüllen. Trotzdem
wird er, eben weil die Familie Vorbild ist, in
jenem frühesten Stadium wohl überall die Form
des patriarchalischen Königtums an sich getragen
haben. Und warum sollte nicht wirklich in ein-
zelnen Fällen der Patriarch, das hochbejahrte
Familienhaupt, als König über den Stamm ge-
herrscht haben, zu dem die Familie sich erweitert
hatte? Ließ dann sein Tod die Stelle leer, zu der
sämtliche Stammesangehörige in ehrfürchtiger
Unterwerfung aufzublicken gewohnt waren, so
mußte ebenso allgemein das Bedürfnis eines Er-
satzes empfunden werden, und unschwer wird man
sich nun weiter ausdenken können, wie psycholo-
gische Motive im Verein mit andern Faktoren es
selbstverständlich machten, daß der älteste Sohn
Nachfolger des Patriarchen und das Königtum
in seinem Hause erblich wurde. Wo aber etwa
aus freier Wahl aller waffenfähigen Männer der
König hervorging, da waren es, wiederum selbst-
verständlich, die persönlichen Eigenschaften, wo-
durch der Erwählte die andern übertraf, seine
Kraft und Gewandtheit, seine Einsicht und Er-
fahrung, seine Uneigennützigkeit und Gerechtigkeit,
welche dazu bestimmten, ihn über die andern zu
erheben. Nun ist es natürlich einem jeden un-
benommen, sich die Verhältnisse jener Urzeit so
idyllisch oder so erhaben auszumalen, wie es dem
Zug seiner Phantasie entspricht: der König alle
übrigen Männer um Haupteslänge überragend,
seine Stärke und Tapferkeit der Schrecken der
Feinde, seine List und Verschlagenheit jeder Fähr-
lichkeit gewachsen, unbestechlich seine Gerechtigkeit,
wenn er auf dem Throne sitzend Streit entscheidet
oder Strafe über die Friedensstörer verhängt!