897
soweit staatliche Mittel in Betracht kommen, seine
Bibliotheken am besten und gleichmäßigsten do-
tiert. Die Königliche Bibliothek in Berlin hat
einen Büchervermehrungsetat von 186 000 MKM.
die Hof= und Staatsbibliothek in München 85.000,
Etat 1907/08 100 000 M, Dresden 40 000 M,
Darmstadt 35 000 M, Hamburg 45 000 M usw.
Der Büchervermehrungsetat der Universitätsbiblio-
theken schwankt zwischen 58 000 M (Straßburg)
und 20 000 M (Münster). Trotzdem vermögen
die deutschen Bibliotheken der Gegenwart, nament-
lich die Universitätsbibliotheken, den an sie ge-
stellten Ansprüchen nicht mehr zu genügen, da die
Dotation hinter der Bücherproduktion und Preis-
steigerung für wissenschaftliche Werke weit zurück-
geblieben ist (vgl. A. Roquette, Die Finanzlage
der deutschen Bibliotheken (1902.0. Der zwischen
vielen Bibliotheken bestehende und jetzt noch mehr
ausgedehnte gegenseitige Leihverkehr kann wirk-
lichen Ersatz für das Fehlen öfter verlangter Werke
in den einzelnen Bibliotheken nicht schaffen.
b) Katalogisierung und Verleihung.
Auch die Kataloge der meisten großen Bibliotheken
genügen wegen ihres Alters oder der mangelhaften
Einheitlichkeit nicht mehr billigen Ansprüchen der
Benützer und Beamten. Die 1897 von Preußen
unter bedeutenden Kosten begonnene Verzeichnung
der Druckschriften der Königlichen Bibliothek Ber-
lin mit denen der 10 preußischen Universitäts-
bibliotheken in einem großen handschriftlichen „Ge-
samtkatalog" hat den Hoffnungen der wissenschaft-
lichen Welt noch nicht entsprochen, da die Arbeit
über Erwartenlangsam fortschreitet, vor allem aber,
weil die großen und reichen außerpreußischen Bi-
bliotheken, namentlich München, dem Unternehmen
fern geblieben sind. Dagegen hat eine im Anschluß
an die preußische Gesamtkatalogisierung 1904 ent-
standene und in ihrer Art einzig dastehende Ein-
richtung ungeteilten Beifall gefunden, das Ber-
liner „Auskunftsbureau der Deutschen Biblio-
theken“, das unter Mitwirkung fast aller deutschen
wissenschaftlichen Bibliotheken sich der Aufgabe
unterzieht, nachzuweisen, ob und in welcher der
beteiligten Sammlungen irgend ein vom Frage-
steller gesuchtes Buch anzutreffen ist. In ähn-
licher Gemeinsamkeit gehen jetzt die deutschen Bi-
bliotheken auch bei der Verzeichnung aller ihrer
Wiegendrucke (bis zum Jahr 1500) vor. Dagegen
scheint die Zeit noch nicht gekommen für einen
andern, Zeit und Mühe sparenden Fortschritt,
den einheitlichen Druck verkäuflicher und für alle
Bibliotheken verwendbarer Katalogzettel, wie er
in Amerika schon seit Jahren durch die Kongreß-
bibliothek besorgt wird. Im Rückstand gegen die
amerikanischen Bibliotheken sind die deutschen auch
hinsichtlich vieler den Benützern gewährten Be-
quemlichkeiten, der Aufstellung allgemein zugäng-
licher Kataloge und Schlagwortkataloge, der
Drucklegung der Bücherverzeichnisse, vor allem
aber in der Schnelligkeit der Bücheraushändigung;
liberaler, namentlich als England, verfahren sie
Staatslexikon. I. 3. Aufl.
Bibliotheken.
898
in der Verleihung und Versendung ihrer Bücher
irts
ins Haus und nach auswärts.
c) Rechtliche Verhältnisse. Eine spe-
zialgesetzliche Reglung der Rechtsverhältnisse der
Bibliotheken und des Bibliotheksverkehrs ist noch
nicht erfolgt, weder im innerdeutschen Verkehr (val.
Joh. Franke, Der Leihbetrieb der öffentlichen
Bibliotheken und das geltende Recht (190 50) noch
in dem immer lebhafter werdenden internationalen.
— Gegenstand mancher Anfeindung ist das in
vielen deutschen Bundesstaaten noch bestehende
Recht bestimmter Bibliotheken auf das „Pflicht-
exemplar“ aller im zuständigen Bezirk der Biblio-
thek erscheinenden Verlagsdruckwerke. Trotz un-
vermeidlicher kleiner Härten spricht gegen die Ab-
schaffung der Umstand, daß dann eine große Zahl
für die Geschichte des Volkstums wichtiger Lite-
raturerscheinungen der Zukunft für immer ver-
loren wäre. Auch fast alle andern Kulturstaaten
der Welt haben den Pflichtexemplarzwang (ogl.
Joh. Franke, Die Abgabe der Pflichtexemplare
11889.). Eine der Bewegung gegen die Pflicht-
exemplare entgegengesetzte hat auf dem Gebiet der
musikalischen Literatur 1906 zu der Gründung
einer „Deutschen Musiksammlung bei der König-
lichen Bibliothek zu Berlin“ geführt, die, ur-
sprünglich als Reichsmusikbibliothek geplant, von
Preußen übernommen wurde, als das Reich die
ihm von 70 deutschen Musikfirmen zum Geschenk
angebotenen Notenschätze abgelehnt hatte. — Ein
dem Schulaufsichtsrecht ähnliches Recht des Staats
über die öffentlichen Büchersammlungen besteht
nicht.
d) Volksbibliotheken. In Deutschland
hat man sich daran gewöhnt, eine bestimmte Gruppe
von Büchersammlungen von den übrigen zu son-
dern, unter dem Namen Volksbibliotheken zu-
sammenzufassen und mit dieser Bezeichnung den
Sinn zu verbinden, daß vor allem das niedere
Volk Nutznießer solcher sozialkultureller Wohl-
fahrtseinrichtungen sei. Diese Begriffsbildung ist
begründet zum Teil in der Ausschließlichkeit, mit
der tief bis ins 19. Jahrh. die Wissenschaften ge-
pflegt wurden, vor allem aber in dem Versäumnis
der meisten Stadtgemeinden, durch Gründung
größerer und bequem zugänglicher Sammlungen
dem gebildeten Mittelstand Bibliotheken zu schaf-
fen, welche zwischen den rein wissenschaftlichen und.
volkstümlichen vermitteln könnten. Dem deutschen
Bibliothekswesen fehlt mit wenigen Ausnahmen
der Mittelbau, den Amerika und England in ihren
auch von den höheren Ständen viel benutzten
Free Public Libraries haben. Die deutsche
Volksbibliotheksbewegung, schon der ersten Hälfte
des 19. Jahrh. nicht ganz fremd, ist in ihrer
heutigen Gestalt eine in den 1890er Jahren be-
ginnende Nachahmung jener Free Public Libra-
ries, nur daß sie bei der Beschränktheit verfüg-
barer Geldmittel sich zunächst in der Gründung
von „Volksbibliotheken“ erschöpfte. Seit Beginn
des 20. Jahrh. aber ist auch begründete Hoffnung
29