Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

915 
die unter dem Namen der „bewaffneten Neutrali- 
tät“ bekannten Defensivbündnisse, besonders auch 
die Kontinentalsperre Napoleons I. vom Jahr 
1806 bis 1814. In der Epoche, welche dem Wiener 
Kongresse folgte, gelangten die dem Zweck der 
Blockade entsprechenden besseren Grundsätze zur 
Ausbildung. Von Fällen, in denen die Friedens- 
blockade angewendet worden ist, heben die Denk- 
würdigkeiten des Völkerrechts hervor: die von Eng- 
land, Frankreich und Rußland 1827 verhängte 
Blockade gegen die damals noch türkischen Küsten 
Griechenlands, die von Frankreich gegen Portugal 
1831, von England gegen Neu-Granada 1836, 
von Frankreich gegen Mexiko 1838 verhängte, die 
zehnjährige Blockade der Häfen der Argentinischen 
Republik von seiten Englands und Frankreichs 
1838/48, dann die im Jahr 1850 von England 
gegen Griechenland durchgeführte sog. Pazifico- 
Blockade. Damals wurde die englische Mittelmeer- 
flotte in den Piräus entsendet; der Befehlshaber, 
Vizeadmiral Parker, stellte ein Ultimatum be- 
hufs Freigabe des „Pacifico“ und verhängte am 
19. Jan. die Blockade über die ganze griechische 
Küste. Die französische Regierung beeilte sich, ihre 
Vermittlung anzubieten, die aber von Lord Pal- 
merston abgelehnt wurde. Schließlich blieb der 
griechischen Regierung nichts anderes übrig, als 
die englische Forderung zu erfüllen. Sie zahlte 
300 000 Drachmen an Pacifico, und dann wur- 
den die griechischen Schiffe wieder herausgegeben. 
Beispiele für Zwangsblockaden aus neuerer Zeit 
sind: die Blockade und Beschießung der perua- 
nischen Küstenzone von Callao durch Spanien 
1866; die Blockade der Insel Formosa und des 
Golfs von Petschili durch Frankreich 1884; die 
Blockade der Ostküste von Griechenland und des 
Golfs von Korinth, verhängt Anfang Mai 1866 
durch Deutschland, Osterreich-Ungarn, Großbri- 
tannien und Rußland (das am Blockadedienst sich 
nicht effektiv beteiligte), nachdem die an die grie- 
chische Regierung in Form eines Ultimatums ge- 
stellte Aufforderung zur Abrüstung erfolglos ge- 
blieben war. Diese Blockade währte bis zur Er- 
lassung der offiziellen Abrüstungsdekrete Anfang 
Juni 1886 und gestaltete sich durch die Verwen- 
dung der Torpedoboote besonders empfindlich; — 
ferner die Verfügung der Blockierung von Massaua 
(Abessinien) durch Italien im Mai 1887; die 
Blockade der ostafrikanischen Küste durch deutsche, 
englische und italienische Kriegsfahrzeuge zur Ver- 
hinderung des Sklavenhandels und der Einfuhr 
von Waffen, Ende Nov. 1888; die Blockade des 
Küstengebiets von Dahome durch Frankreich 1893; 
die Blockade über Kreta seitens der Garantiemächte 
1897; die maritime Aktion der Mächte gegen die 
Türkei, Nov. 1905. 
Literatur. Hautefeuille, Questions de droit 
maritime international (Par. 1868); Theodor 
Ortolan, Regles internationales et diplomatie 
Bodenreform. 
  
916 
sur mer (1876); Deane, H. Bargrave, The law of 
blockade. An international law essay (Lond. 
1870); E. Nys, La guerre maritime (Brüssel u. 
Leipzig 1881); Fauchille, Du blocus maritime 
(Par. 1882); Perels, Internationales öffentliches 
Seerecht der Gegenwart (21903); Dahn, Seekrieg 
(im Jahrb. für die deutsche Armee V); dann die von 
Bulmerinc, Völkerrecht (21889; in Marquardsens 
Handbuch des öffentl. Rechts) behandelte sowie die 
in v. Martens -Bergbohm, Völkerrecht (2 Bde, 
1883/86) angegebene Literatur. — Wertvolle Bei- 
träge zu dieser Frage enthalten auch die Gutachten 
und Verhandlungen des Instituts für Völkerrecht 
über das Seerecht im Krieg, mitgeteilt in der Re- 
vue de droit internat. und dem Annuaire de DIn- 
stitut (1875/77). (Lentner.) 
Bodenreform. Man bezeichnet mit Boden- 
reform zunächst eine Bewegung, welche die Haupt- 
ursache der sozialen Mißstände unserer Zeit im 
Privateigentum an Grund und Boden erblickt und 
deshalb entweder eine vollständige Bodenverstaat- 
lichung oder die staatliche Einziehung der Grund- 
rente in Form einer Steuer fordert. Die Be- 
wegung wird, weil sie nicht wie der Sozialismus 
für die Verstaatlichung aller Produktionsmittel, 
sondern nur für die des Bodens eintritt, auch 
Agrarsozialismus oder Agrarkommu- 
nismus genannt und ist eine Unterart des Staats- 
bzw. Gemeindesozialismus, da sie den Übergang 
von Grund und Boden in die Hände des bestehen- 
den Staats, nicht des sozialistischen Zukunftsstaats, 
erstrebt. Mit Bodenreform bezeichnet man aber 
auch die Bestrebungen, welche im Rahmen unserer 
Gesellschaftsordnung ein mehr soziales Bodenrecht 
erstreben und besonders den Mißständen in dem 
städtischen Grundbesitz-, Bau- und Wohnungs- 
verhältnissen entgegentreten wollen. 
. Der Agrarsozialismus. Nach der 
Auffassung der Physiokraten ist bekanntlich der 
Boden die alleinige Quelle aller nationalen Reich- 
tümer, der Boden allein produktiv; deshalb sollte 
auch der Bodenertrag als der einzige gesellschaft- 
liche Reinertrag alleiniger Gegenstand der Be- 
steuerung sein. Der bedeutendste Vertreter des 
Agrarsozialismus aber ist der Amerikaner Henry 
George (1839/97), nacheinander Drucker, 
Goldgräber, Setzer, Redakteur und Schriftsteller. 
George führt aus, daß der modernere Fort- 
schritt auf technischem Gebiet auf der einen Seite 
und die stets wachsende Verarmung der Massen 
anderseits Erscheinungen sind, die nicht in der 
Übervölkerung und der Kargheit der Natur (im 
Gegensatz zu Malthus) sondern in der Grund- 
rente bzw. in dem Privateigentum und der Boden- 
spekulation ihre Ursache haben. Je größer der 
Fortschritt, desto höher die Grundrente, desto 
niedriger der Anteil des Kapitals (Zins) und 
der Arbeit (Lohn); immer komme der Gewinn 
aus gesteigerter Produktion und zunehmendem 
Reichtum dem Grundeigentum zu. Die gänz- 
de la mer III (ebd. 1864); L. Geßner, Zur Reform liche Abschaffung des Privateigentums an Grund 
des Kriegsseerechts (1875); ders., Droit des neutres 
und Boden sei deshalb zu erstreben. Das sei
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.