Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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durchaus nicht ungerecht, nur die Arbeit könne 
der einzige Rechtstitel des Eigentums sein; der 
Boden sei aber nicht die Frucht menschlicher 
Arbeit, sondern von Gott für alle Menschen in 
gleicher Weise geschaffen. Zur Durchführung 
seiner Idee brauche nicht eine Zwangsenteignung 
der heutigen Grundeigentümer durchgeführt zu 
werden, sondern nur die Grundrente, d. h. jedes 
Einkommen, das nicht von der Arbeit und dem 
Kapital, sondern dem Grundbesitz als solchem her- 
rühre, in Form einer Grundsteuer für den Staat 
in Anspruch genommen zu werden. Diese Ein- 
nahme würde das gesamte Erwerbsleben von staat- 
lichen Abgaben entlasten und zu einem großen 
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Auf- 
schwung führen. — Den Beweis für seine Theorie 
baut George vornehmlich auf dem Ricardoschen 
Grundrentengesetz auf, das besagt, daß die Grund- 
rente bestimmt wird durch den Überschuß des Er- 
trags eines Grundstücks über denjenigen Ertrag, 
den der schlechteste noch angebaute Boden bei 
gleichem Produktionsaufwand einbringt. Die dem 
Naturrecht entnommenen „Beweise“, welche das 
Grundeigentum als ungerecht und den Absichten 
des Schöpfers zuwiderlaufend hinzustellen suchen, 
finden ihre Widerlegung in der christlichen Eigen- 
tumslehre. Die Ricardosche Grundrente gilt je- 
doch nur für einen ganz abgeschlossenen Staat, 
dessen Bevölkerung ständig wächst und der ohne 
Zufuhr von außen ist. Die landwirtschaftliche 
Grundrente, auf die sich die Ricardosche Renten- 
theorie allein stützt, ist in Europa trotz der starken 
Bevölkerungsvermehrung durch die überseeische 
Konkurrenz stark zurückgegangen. Infolge der 
ausländischen Konkurrenz und auch anderer miß- 
licher Erscheinungen im wirtschaftlichen Erwerbs- 
leben wie z. B. durch erbrechtliche Verhältnisse, 
Arbeitermangel usw. ist der Boden so hoch belastet 
worden, daß heute der verschuldete Bauer den 
Hypothekengläubigern oft mehr an Zinsen zahlen 
muß, als der Boden Rente abwirft. Die Georgesche 
Schlußfolgerung von der stets steigenden Grund- 
rente fällt also in sich zusammen. Die Verstaat- 
lichung (bzw. Kommunalisierung) wäre auch eine 
offenbare Ungerechtigkeit, die Grundbesitzer sollten 
ihrer Rechte beraubt, das zum wenigsten doch nicht 
minder einträgliche mobile Kapital im privaten 
Besitz belassen werden. Abgesehen ferner von den 
praktischen Schwierigkeiten, die Grundrente zu 
bestimmen, würde durch die Bodenverstaatlichung 
die Abhängigkeit der Bevölkerung von der öffent- 
lichen Gewalt eine unerträgliche werden, jede in- 
tensivere Bewirtschaftung, jede stärkere Befruchtung 
mit Arbeit und Kapital ungemein erschwert, wenn 
nicht unmöglich gemacht werden, und damit die 
Produktivität des Bodens und die Möglichkeit 
durch Fleiß und anstrengende Arbeit eine höhere 
Einnahme zu erzielen, unterbunden und so ein 
großer Kulturrückschritt veranlaßt werden. — 
Leu George hat namentlich in Amerika und in 
ngland einen großen Kreis von Anhängern ge- 
Bodenreform. 
  
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funden. In England wirkte vor allem N. R. Wal- 
lace für den Agrarkommunismus, er wollte dem 
Eigentümer und den vor dessen Tode geborenen 
Erben ein Jahresgeld in der Höhe des aus dem 
Grundbesitz bezogenen Einkommens zubilligen. 
Die Anhänger des englischen Agrarsozialismus 
haben sich, je nachdem sie mehr die Ideen von 
George oder Wallace annahmen, in zwei Rich- 
tungen gespalten, beide. Parteien sind aber ohne 
wesentliche Bedeutung geblieben. In England hatte 
übrigens schon Thomas Spence (1750/1814) 
und Herbert Spencer sowie John Stuart Mill 
agrarsozialistische Grundsätze vertreten. 
In Deutschland hat, wenn wir von Gossen 
(Entwicklung der Gesetze des menschlichen Ver- 
kehrs (1853|), Stamm (Erlösung der darbenden 
Menschheit I1870.) und Samter (Das Eigentum 
in seiner sozialen Bedeutung (1870.) absehen, die 
Bodenreformbewegung Michael Flürscheim 
eingeleitet. Flürscheim, geb. 1844 zu Frankfurt 
a. M., war als Kaufmann in Frankreich und den 
Vereinigten Staaten tätig und 1872/88 Chef 
der Eisenwerke Gaggenau in Baden, seit 1888 ist 
er für seine sozialen Theorien tätig, seit Jahren 
in Australien (Neuseeland), er hofft dort neben 
seiner Bodenverstaatlichungsidee auch eine Papier- 
währung praktisch zur Durchführung zu bringen, 
deren Ausgabemenge sich nach den Durchschnitts- 
preisen der Waren richtet, so daß das Preisniveau 
der Waren und der Wert des Geldes unverändert 
blieben und vor allem die Macht des Geldbesitzers, 
den Markt durch „Einsperrung des Währungs- 
materials“ beherrschen zu können, gebrochen würde. 
Als Bodenreformer vertrat Flürscheim zuerst die 
Anschauungen von Henry George, bald aber er- 
kannte er die namentlich von dem Sozialismus 
gegen George erhobenen Einwände, daß nach Be- 
seitigung der Grundrente der wichtigere Kapital- 
zins als arbeitsloses Einkommen ja noch bestehen 
bliebe, als berechtigt an und stellte eine andere 
Theorie auf. Flürscheim sieht in der Grund- 
rente auch die Mutter des Kapitalzinses und sucht 
zu beweisen, daß die Bodenverstaatlichung allein 
in ihren Wirkungen das gleiche erreiche, als wenn 
alle Produktionsmittel verstaatlicht würden. Er 
unterscheidet zwischen „wirklichem“ (d. h. Produk- 
tivkapital) und „imaginärem“ oder „falschem“ 
Kapital. Der Grundbesitz bilde die Hauptauelle 
des imaginären Kapitals, das nicht vorwiegend 
in produktiven Unternehmungen, sondern in Hypo- 
theken, Wertpapieren und andern sichern Forde- 
rungsrechten angelegt würde. In dieser Art der 
Kapitalanlage sieht Flürscheim die Grundursache 
aller sozialen Übel, so z. B. auch die Krisen. Mit 
der Beseitigung des Privateigentums an Grund 
und Boden würde auch der Zins für Hypotheken 
aufhören und damit die Möglichkeit für Kapital 
rentetragenden Boden erwerben zu können. Dadurch 
würde massenhaft Kapital frei werden, das Angebot 
würde die Nachfrage stets übersteigen, der Zins 
nur in Form einer niedrigen Risikoprämie in Er-
	        
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