Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Das letzte endlich ist, daß auch die Betätigung 
der Staatsgewalt selbst an bestimmte Regeln ge- 
bunden und das öffentliche Recht als eine von 
ihrem Ermessen unabhängige Norm anerkannt 
werde. Das Interesse der Gesamtheit in Krieg 
und Frieden, die Durchführung des staatlichen 
Lebens nach seinem ganzen Inhalt erfordert 
Unterordnung der einzelnen unter das Ganze und 
positive Leistungen für das Ganze. Wie weit soll 
nun der einzelne seine Freiheit einschränken, um 
dem Ganzen zu dienen? Welches Maß von Last 
ist er schuldig, zur Aufrechterhaltung desselben auf 
sich zu nehmen? Kriegsdienst und Steuerzahlung 
sind die Punkte, an denen zuerst sich hier die 
Gegensätze der Interessen begegnen und das Be- 
dürfnis einer einseitigem Ermessen entzogenen 
Festsetzung wach wird. Mit der volleren Ent- 
wicklung des staatlichen Lebens, wo eine ausge- 
bildete Verwaltung vorsorgend und abwehrend 
nach allen Seiten hin tätig ist, hört das Be- 
dürfnis nicht auf, es nimmt nur eine veränderte 
Färbung an. Denn nun stehen sich ja nicht mehr 
Staatsoberhaupt und Untertan unmittelbar gegen- 
über. Ein verzweigtes System von Staatsbeamten 
hat sich dazwischen geschoben, an dessen einzelne 
Glieder die verschiedenartigen Funktionen verteilt 
sind. Die Aufgabe ist nicht mehr, dem nach Er- 
weiterung seiner persönlichen Machtfülle strebenden 
Oberhaupt einen festen Damm entgegenzustellen, 
wohl aber die, eine Bureaukratie, die zu leicht 
vergißt, daß der Staat nicht um ihretwillen, son- 
dern sie um des Staates willen da ist, in feste 
Grenzen zu weisen, soweit immer möglich die 
amtliche Zuständigkeit durch Gesetz zu bestimmen, 
alle diskretionären Befugnisse zu beseitigen. Gilt 
es hier, die rechtliche Freiheit der Bürger gegen 
Übergriffe staatlicher Organe zu sichern, so ver- 
langt die allseitige Durchführung der Rechts- 
ordnung nicht minder, daß auch diese Organe 
selbst in ihrer Stellung und Tätigkeit geschützt 
und der Willkür von oben entrückt seien. Der ab- 
solute Fürst kennt nur Diener, die er annimmt 
und entläßt nach seinem Belieben, deren sach- 
kundigen Rat er gerne gebraucht, in deren besserem 
Wissen, in deren fester Gesinnung er aber nie ein 
Hindernis finden will, deren gute Dienste seine 
Gnade belohnt, denen aber schlechterdings kein 
rechtlicher Anspruch zur Seite stehen soll. Die 
Idee des Rechtsstaates fordert Beamte, welche das 
Wohl des Ganzen nach eigenem Wissen und Ge- 
wissen auch dem Fürsten gegenüber vertreten, deren 
amtliche Pflichten und Befugnisse genau geregelt 
sind, denen aber auch, solange sie in Ubereinstim- 
mung hiermit ihr Amt ausfüllen, ein Recht auf die 
aus diesem Amte fließenden Vorteile zukommt. 
Das also ist es, was den Absolutismus über- 
windet: Anerkennung einer der Willkür der Staats- 
gewalt entrückten Rechtsordnung nach allen den 
Richtungen, welche sie in sich faßt. Welches aber 
sind nun die Mittel, die zu diesem Ziel hinführen 
oder das jedesmal Erreichte sicherzustellen im- 
Absolutismus. 
  
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stande sind? Wenn man sich der ungeheuerlichen 
Überspannung königlicher Macht erinnert, welcher 
die Theoretiker des Absolutismus das Wort 
redeten, so wird man schon allein in der theore- 
tischen Anerkennung von eigenen Rechten der 
Staatsbürger ein Großes erblicken. Und je mehr 
dieselbe nicht nur von einzelnen verfochten wird, 
sondern in das allgemeine Bewußtsein über- 
gegangen ist, desto mehr wird sie sich auch bereits 
als wirksamer Faktor erweisen. Alsdann aber 
wird man dabei nicht stehen bleiben. Jeden 
Augenblick kann aufflammende Leidenschaft oder 
der Zug eines einseitigen Interesses die unver- 
kürzte Macht des Staatsoberhaupts zur Ver- 
letzung der nur theoretisch gezogenen Schranken 
hinführen. Einen weiteren Schritt in der gleichen 
Richtung bezeichnet die Vorstellung, daß das Ver- 
hältnis zwischen Fürst und Volk ein Rechtsver- 
hältnis sei. Sie liegt jener Theorie zugrunde, 
der man bereits auf den Ständeversammlungen 
des 15. Jahrh. begegnet und welche in der 
Streitliteratur der folgenden Jahrhunderte un- 
aufhörlich wiederkehrt: daß der Staat aus einem 
Vertrag entstanden sei, in welchem das Volk die 
Gewalt, deren ursprünglicher Träger es gewesen, 
auf den Fürsten übertragen habe. Aber die Theorie 
führte nicht weit, denn während die einen daraus 
die Folgerung ableiteten, daß das Volk die Gewalt 
jederzeit wieder zurückfordern könne, oder daß der 
Fürst nur so viel an Rechten besitze, als ihm da- 
mals übertragen worden sei, behaupteten, wie 
oben angeführt, die andern, vielmehr habe sich das 
Volk durch jenen Vertrag endgültig seiner Macht 
entäußert und der absoluten Herrschaft des Fürsten 
unterworfen. 
Eine andere Streitfrage, welche hiermit eng 
zusammenhing, ja in der Begründung der Ant- 
wort gewöhnlich darauf zurückleitete, reicht in 
der deutschen Literatur noch bis ins 19. Jahrh. 
hinein; es ist die von der Pflicht des bedingten 
oder unbedingten (passiven) Gehorsams (dgl. 
Mohl, Geschichte und Literatur der Staatswissen- 
schaften 1I 320 ff). Die Fragestellung war darum 
unpraktisch, weil ja nur mehr in den seltensten 
Fällen dem Befehl des Oberhauptes der zum 
Gehorsam verpflichtete Untertan gegenüberstand. 
Redete man also von der Pflicht eines Ministers, 
der zuerst dem Befehl des Oberhauptes Folge zu 
geben und das Erforderliche zu seiner Durch- 
führung zu veranlassen hat, oder von der der Be- 
amten, in deren Hand die Durchführung liegt, 
oder endlich von der der Untertanen, gegen deren 
rechtliche Freiheit möglicherweise diese Durch- 
führung sich kehrt? Die Lösung aber wurde noch 
dadurch hinausgeschoben, daß die Vertreter des 
bloß bedingten oder verfassungsmäßigen Gehor- 
sams meistens so weit gingen, auch den aktiven 
Widerstand, die revolutionäre Erhebung gegen 
eine die Grenze ihres Rechts überschreitende Re- 
gierung für erlaubt und zulässig zu erklären. 
Den Anhängern der entgegengesetzten Meinung
	        
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