Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

941 
Wissenschaft von diesen Beziehungen ist die sitt- 
liche oder soziale Wahrheit, und ihre Erkenntnis 
bildet die „Vernunft“; letztere ist die „Vollendung 
des Willens“, dieser die „Determination des Ge- 
dankens“, dem Menschen nur erkennbar durch den 
„Ausdruck“ (expression). 3. Ohne den „Aus- 
druck“ würde der Einzelmensch, des Gedankens, 
des Willens, der Vernunft, der Wahrheitserkennt- 
nis beraubt, in der Unwissenheit über „die Per- 
sonen und ihre Beziehungen“ dahinleben, jeder 
Gesellschaftsverbindung fremd bleiben. Darauf 
baut Bonald den Schluß, daß für den Menschen 
alles entsteht mit dem „Worte"“ (parole), dem 
einzigen und wahren Ausdruck der Ideen, „der 
mächtigen Stimme, welche die Welt der Intelli- 
genz aus dem Nichts hervorruft und inmitten der 
Finsternisse jenes Licht aufleuchten läßt, das jeden 
erhellt, der in diese Welt kommt“. Da das Wort 
nicht menschlicher Erfindung sein kann, so muß es 
dem Menschen durch Offenbarung (par révéla- 
tion et par transmission) übermittelt sein; alle 
Wissenschaft von den Personen und ihren Be- 
ziehungen, für welche das Wort den einzigen Aus- 
druck schafft, ist somit eine auf dem Weg der 
autoritativen Offenbarung verliehene. Aus 
dieser für Bonald unbestreitbaren Tatsache und 
den aus ihr sich ergebenden Prinzipien konstruiert 
er das Gebäude seiner „Urgesetzgebung“. „Die 
Souveränität ist entweder in Gott oder sie ist im 
Menschen; ein Mittelding ist unmöglich.“ Daß 
sie in Gott ist, folgert Bonald aus der absoluten 
Abhängigheit des Menschen von einer „Inspira- 
tion“ der göttlichen Offenbarung für jede, selbst 
die kleinste moralische Idee. Gott war also der 
erste Gesetzgeber; denn „wie hätte das Geschlecht 
bis zur zweiten Generation fortdauern können, 
wenn die erste nicht alle Mittel zu seiner Erhal- 
tung, vor allem nicht das Hauptmittel, die Kunst 
des Wortes, besessen? Lebt doch der Mensch nach 
dem Spruch der souveränen Vernunft nicht vom 
Brot allein, sondern von jedem Wort aus Gottes 
Mund, was besagen will, daß dem Geschlecht zur 
Fortdauer die Gesetze ebenso notwendig sind wie 
die Nahrungsmittel“. Demnach muß das dem 
Menschen mittels des Wortes überlieferte, mittels 
der Schrift fixierte Sozialgesetz in Kraft der Au- 
torität Gottes wahr, natürlich, vollkommen wie 
Gott selbst, sein Urheber, sein. Die vollendete Er- 
kenntnis dieses Gesetzes erschließt sich aus der Ge- 
schichte der stärksten und längstdauernden Gesell- 
schaften, zunächst der jüdischen, noch heute alle 
Bedingungen der Kraft und Festigkeit in sich 
tragenden Gesellschaft; dann der Vollendung der 
jüdischen Gesellschaft, der christlichen, die, über 
die ganze Welt ausgebreitet, alle andern durch 
die Macht ihrer Industrie, ihrer Wissenschaft, ihrer 
Intelligenz, ihrer Religion und ihrer Politik 
beherrscht. 
Wir haben in der Législation primitive 
weniger eine methodisch entwickelte Theorie der 
Gesetzgebung zu suchen, als vielmehr, wie Bonald 
Bonald. 
  
942 
selbst will, nur die Richtpflöcke (jalons), nach 
welchen alle gesetzgeberischen Akte sich ordnen, das 
Prinzip, von dem sie ausgehen, den Leuchtturm, 
nach dem sie hingeleitet werden sollen; immerhin 
tritt hier die irrige Richtung in Bonalds 
Grundanschauung zutage, sowohl in der unrich- 
tigen Definition der natürlichen Gesellschaftsord- 
nung als in der unklaren Stellung der „Offen- 
barung“ zu ihr. In ersterer Hinsicht erkennt Bo- 
nald nicht genug den dreifachen Irrtum der 
naturalistischen Gesellschaftsanschauung: die Leug- 
nung der kreatürlichen und providenziellen Ab- 
hängigkeit aller natürlichen Ordnung von Gott, 
die Übertreibung und Vergötterung ihrer relativen 
Vollständigkeit und Vollkommenheit, die Ver- 
kennung ihrer Bestimmung mit Bezug auf die 
übernatürliche Ordnung. Bonald setzte gegen die 
naturalistische These einfach die supranaturalistische 
einer absoluten Abhängigkeit der natürlichen Ord- 
nung von der übernatürlichen, welche sowohl den 
göttlichen Charakter der natürlichen Ordnung 
schwächte als ihre moralisch notwendige Ab- 
hängigkeit von der übernatürlichen Offenbarung 
verwischte. 
In der Verkennung der Wesensunterschiede der 
doppelten Schöpfungstat Gottes auf dem Gebiet 
der natürlichen und der übernatürlichen 
Ordnung ruht Bonalds Hauptirrtum, aber, fügen 
wir bei, ein weder von seiner Zeit noch seiner Um- 
gebung klar erkannter Irrtum. Die falschen Ideen- 
strömungen auf philosophischem Gebiet seit Des- 
cartes, auf dem theologischen seit Calvin bis in 
die jansenistischen Ausläufer seiner Doktrin hatten 
gewisse Fundamentalwahrheiten über die mensch- 
liche Natur und die göttliche Gnade, über die 
natürliche und die übernatürliche Bestimmung des 
Menschen, über den ihm auch im gefallenen Zu- 
stand verbliebenen Grad der Selbstbestimmung, 
über die natürliche Vernunft und die Offenbarung 
im engeren Sinn so entstellt und verdunkelt, daß 
auch wohldenkende Katholiken, die die Entschei- 
dungen der Kirche gegen die jansenistische Häresie 
in ihrer ganzen Tragweite und in ihrem Zusam- 
menhang schlecht begriffen, die sichere Norm zur 
Würdigung der Ideen vom Menschen und der 
Gesellschaft, von den Tatsachen der Geschichte ver- 
loren hatten. Es waren Irrgänge auf politischem 
und sozialem Gebiet, die sich aus dem radikalen 
Bruch mit der wissenschaftlichen und speziell theo- 
logischen Tradition der Kirche erklären. Bonald 
hatte in seinem hohen, ungebeugten Streben nach 
Wiedereinsetzung der christlichen Gesellschaftsord- 
nung in ihre Rechte und in seiner kindlichen Hoch- 
achtung gegen die Autorilät der Kirche eine Leuchte, 
die ihn trotz aller Dunkelheiten und Schwierig- 
keiten auf seinem Weg sich zuletzt zurechtfinden 
ließ. 
öwb im Jahr 1801 war er mit einer Gelegen- 
heitsschrift, der dritten Frucht des Pariser Still- 
lebens, ans Licht getreten, diesmal seine Theorie 
auf die in der Kommission für die Neubearbeitung 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.