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Wissenschaft von diesen Beziehungen ist die sitt-
liche oder soziale Wahrheit, und ihre Erkenntnis
bildet die „Vernunft“; letztere ist die „Vollendung
des Willens“, dieser die „Determination des Ge-
dankens“, dem Menschen nur erkennbar durch den
„Ausdruck“ (expression). 3. Ohne den „Aus-
druck“ würde der Einzelmensch, des Gedankens,
des Willens, der Vernunft, der Wahrheitserkennt-
nis beraubt, in der Unwissenheit über „die Per-
sonen und ihre Beziehungen“ dahinleben, jeder
Gesellschaftsverbindung fremd bleiben. Darauf
baut Bonald den Schluß, daß für den Menschen
alles entsteht mit dem „Worte"“ (parole), dem
einzigen und wahren Ausdruck der Ideen, „der
mächtigen Stimme, welche die Welt der Intelli-
genz aus dem Nichts hervorruft und inmitten der
Finsternisse jenes Licht aufleuchten läßt, das jeden
erhellt, der in diese Welt kommt“. Da das Wort
nicht menschlicher Erfindung sein kann, so muß es
dem Menschen durch Offenbarung (par révéla-
tion et par transmission) übermittelt sein; alle
Wissenschaft von den Personen und ihren Be-
ziehungen, für welche das Wort den einzigen Aus-
druck schafft, ist somit eine auf dem Weg der
autoritativen Offenbarung verliehene. Aus
dieser für Bonald unbestreitbaren Tatsache und
den aus ihr sich ergebenden Prinzipien konstruiert
er das Gebäude seiner „Urgesetzgebung“. „Die
Souveränität ist entweder in Gott oder sie ist im
Menschen; ein Mittelding ist unmöglich.“ Daß
sie in Gott ist, folgert Bonald aus der absoluten
Abhängigheit des Menschen von einer „Inspira-
tion“ der göttlichen Offenbarung für jede, selbst
die kleinste moralische Idee. Gott war also der
erste Gesetzgeber; denn „wie hätte das Geschlecht
bis zur zweiten Generation fortdauern können,
wenn die erste nicht alle Mittel zu seiner Erhal-
tung, vor allem nicht das Hauptmittel, die Kunst
des Wortes, besessen? Lebt doch der Mensch nach
dem Spruch der souveränen Vernunft nicht vom
Brot allein, sondern von jedem Wort aus Gottes
Mund, was besagen will, daß dem Geschlecht zur
Fortdauer die Gesetze ebenso notwendig sind wie
die Nahrungsmittel“. Demnach muß das dem
Menschen mittels des Wortes überlieferte, mittels
der Schrift fixierte Sozialgesetz in Kraft der Au-
torität Gottes wahr, natürlich, vollkommen wie
Gott selbst, sein Urheber, sein. Die vollendete Er-
kenntnis dieses Gesetzes erschließt sich aus der Ge-
schichte der stärksten und längstdauernden Gesell-
schaften, zunächst der jüdischen, noch heute alle
Bedingungen der Kraft und Festigkeit in sich
tragenden Gesellschaft; dann der Vollendung der
jüdischen Gesellschaft, der christlichen, die, über
die ganze Welt ausgebreitet, alle andern durch
die Macht ihrer Industrie, ihrer Wissenschaft, ihrer
Intelligenz, ihrer Religion und ihrer Politik
beherrscht.
Wir haben in der Législation primitive
weniger eine methodisch entwickelte Theorie der
Gesetzgebung zu suchen, als vielmehr, wie Bonald
Bonald.
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selbst will, nur die Richtpflöcke (jalons), nach
welchen alle gesetzgeberischen Akte sich ordnen, das
Prinzip, von dem sie ausgehen, den Leuchtturm,
nach dem sie hingeleitet werden sollen; immerhin
tritt hier die irrige Richtung in Bonalds
Grundanschauung zutage, sowohl in der unrich-
tigen Definition der natürlichen Gesellschaftsord-
nung als in der unklaren Stellung der „Offen-
barung“ zu ihr. In ersterer Hinsicht erkennt Bo-
nald nicht genug den dreifachen Irrtum der
naturalistischen Gesellschaftsanschauung: die Leug-
nung der kreatürlichen und providenziellen Ab-
hängigkeit aller natürlichen Ordnung von Gott,
die Übertreibung und Vergötterung ihrer relativen
Vollständigkeit und Vollkommenheit, die Ver-
kennung ihrer Bestimmung mit Bezug auf die
übernatürliche Ordnung. Bonald setzte gegen die
naturalistische These einfach die supranaturalistische
einer absoluten Abhängigkeit der natürlichen Ord-
nung von der übernatürlichen, welche sowohl den
göttlichen Charakter der natürlichen Ordnung
schwächte als ihre moralisch notwendige Ab-
hängigkeit von der übernatürlichen Offenbarung
verwischte.
In der Verkennung der Wesensunterschiede der
doppelten Schöpfungstat Gottes auf dem Gebiet
der natürlichen und der übernatürlichen
Ordnung ruht Bonalds Hauptirrtum, aber, fügen
wir bei, ein weder von seiner Zeit noch seiner Um-
gebung klar erkannter Irrtum. Die falschen Ideen-
strömungen auf philosophischem Gebiet seit Des-
cartes, auf dem theologischen seit Calvin bis in
die jansenistischen Ausläufer seiner Doktrin hatten
gewisse Fundamentalwahrheiten über die mensch-
liche Natur und die göttliche Gnade, über die
natürliche und die übernatürliche Bestimmung des
Menschen, über den ihm auch im gefallenen Zu-
stand verbliebenen Grad der Selbstbestimmung,
über die natürliche Vernunft und die Offenbarung
im engeren Sinn so entstellt und verdunkelt, daß
auch wohldenkende Katholiken, die die Entschei-
dungen der Kirche gegen die jansenistische Häresie
in ihrer ganzen Tragweite und in ihrem Zusam-
menhang schlecht begriffen, die sichere Norm zur
Würdigung der Ideen vom Menschen und der
Gesellschaft, von den Tatsachen der Geschichte ver-
loren hatten. Es waren Irrgänge auf politischem
und sozialem Gebiet, die sich aus dem radikalen
Bruch mit der wissenschaftlichen und speziell theo-
logischen Tradition der Kirche erklären. Bonald
hatte in seinem hohen, ungebeugten Streben nach
Wiedereinsetzung der christlichen Gesellschaftsord-
nung in ihre Rechte und in seiner kindlichen Hoch-
achtung gegen die Autorilät der Kirche eine Leuchte,
die ihn trotz aller Dunkelheiten und Schwierig-
keiten auf seinem Weg sich zuletzt zurechtfinden
ließ.
öwb im Jahr 1801 war er mit einer Gelegen-
heitsschrift, der dritten Frucht des Pariser Still-
lebens, ans Licht getreten, diesmal seine Theorie
auf die in der Kommission für die Neubearbeitung