Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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günstige Aussichten zu haben vermeint, seine Po- 
sition nicht aufgeben, so können die beiden Kon- 
trahenten eine Hinausschiebung der Erfüllung 
bis zum nächsten Ultimo (Prolongation) verein- 
baren. Beim Börsentermingeschäft geschieht dies, 
wenn man vom Lombardgeschäft absieht, meist 
durch das sog. „Kostgeben“ und „Kostnehmen“ 
(Reportgeschäft und Deportgeschäft). Ein 
Haussespekulant überläßt am Stichtag das Quan- 
tum Effekten, zu dessen Bezug er verpflichtet ist, 
an einen Geldverleiher, welcher die Papiere „herein- 
nimmt“ (Kostnehmer, Hereinnehmer, Reporteur), 
mit der Verpflichtung, sie bei der nächsten Liqui- 
dation zum gleichen Kurs unter Zahlung der 
Zinsen für das vorgestreckte Geld zurückzunehmen, 
oder aber er verkauft die Papiere am Stichtag, 
kauft sie jedoch dann sofort wieder zu einem 
etwas höheren oder niedrigeren Preis auf den 
nächsten Ultimo oder Medio zurück. Die Dif- 
ferenz der beiden Preise ist der Report (Kostgeld), 
oder Deport, wenn Stücke fehlen und für sie Leih- 
geld bezahlt wird. Will umgekehrt ein à la baisse 
Spekulierender seine Stellung beibehalten, so leiht 
oder kauft er die Stücke, welche er zu liefern ver- 
pflichtet ist, von einer Bank und verkauft sie even- 
tuell sofort wieder. Auf diese Weise wird es dem 
Spekulanten möglich, noch nicht eingetretene, aber 
nach seiner Ansicht zu erwartende für ihn günstige 
Marktverhältnisse abzuwarten. Report wie Deport 
bieten den Kapitalbesitzern bzw. Effektenbesitzern 
eine vorteilhafte, meist sichere Anlage. 
VIII. Warenbörse. Nach dem früher Gesag- 
ten ergibt sich, daß zum Börsenverkehr, zumal 
dem Termingeschäft, nur solche Waren sich eignen, 
denen eine gewisse Vertretbarkeit zukommt. Da 
diese Eigenschaft in hohem Maß nur bei einer 
geringen Zahl von Waren zutrifft, so hat sich ein 
Warenterminhandel nur bei wenig Waren heraus- 
gebildet. Am wichtigsten ist der Terminhandel in 
Getreide, Spiritus, Kaffee, Zucker, Baumwolle, 
Kammgannzeugen. In andern Waren kommen wohl 
Lieferungsgeschäfte nach Probe, aber keine eigent- 
lichen Termingeschäfte vor. Qualität wie Ein- 
heitsquantum sind im Warenterminhandel gleich- 
falls genau festgestellt. Ein besonderes Mittel zur 
Fungibilisierung von Waren ist der Warrant, 
ein Schein über ein bestimmtes Quantum einer 
in einem Lagerhaus aufbewahrten Ware. Dieser 
Schein tritt vollständig an Stelle der Ware selbst. 
Dadurch, daß nicht nur die Quantität, sondern 
auch die Qualität in den Schein ausgenommen 
und hierfür die Haftung übernommen wird, ist ein 
sehr hoher Grad der Vertretbarkeit erzielt. Die 
Lieferungstermine sind noch nicht so genau ent- 
wickelt wie beim Fondsverkehr. Die Bedürfnisse 
sind zu vielgestaltig; darum ist hier eine größere 
Verschiedenheit der Lieferungsfristen, Lieferungs- 
quanta, auch der Art der Lieferung erforderlich. 
Die Abwicklung des Termingeschäfts geschieht 
ähnlich wie im Effektenterminhandel. Die Kurs- 
feststellung wird gleichfalls von Maklern vorge- 
Börse. 
  
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nommen sie ist ähnlich wie bei Effekten; es findet 
sich jedoch eine größere Verschiedenheit an den ein- 
zelnen Börsen. Bezüglich der Art der Geschäfte 
gilt im wesentlichen das über den Fondsverkehr 
Gesagte. Der tiefere Grund zur Erklärung des 
Termingeschäfts in Waren ist das Bedürfnis der 
Sicherstellung gegenüber häufigen Preisschwan- 
kungen. Wer eine feste Lieferung zu einem festen 
Preis übernehmen will, muß auch bei der Berech- 
nung des Lieferungssatzes für das Rohprodukt 
einen festen Preis in Ansatz bringen. Um dies tun 
zu können, muß er denselben wissen und sich eines 
einheitlichen Preises versichern; dies kann er nur 
durch Abschluß eines Termingeschäfts im weiteren 
Sinn. Der Terminmarkt soll also ein Versiche- 
rungsinstitut gegen Preisschwankungen sein, zu- 
gleich aber ein Mittel, die Ausgleichung der Preise 
an verschiedenen Plätzen des Weltmarkts zu för- 
dern. Sofern Termingeschäfte nicht, um wirklich 
zu beziehen, wirklich zu liefern, sondern nur, um 
die Preisgestaltung auszunutzen (Differenzgeschäft), 
abgeschlossen werden, sind sie meist ohne Unterschied 
als verwerflich und für die Volkswirtschaft gefahr- 
voll und schädlich bezeichnet worden. Sofern aber 
ein solcher Spekulant die erforderlichen Eigen- 
schaften, Intelligenz und Sachkenntnis besitzt, um 
den Markt zu studieren und die Tragweite der 
Unternehmungen zu ermessen, kann seine Tätigkeit 
einen wünschenswerten Einfluß auf die Ausglei- 
chung der Preise üben und dadurch immerhin von 
gewissem Nutzen sein. Sind diese Voraussetzungen 
bei der Spekulation nicht gegeben, was in der 
Regel der Fall ist, so bedeutet sie bei dem Zu- 
sammenhang und der Wechselbeziehung der ein- 
zelnen Privatwirtschaften die größte Gefahr für 
die gesamte Volkswirtschaft. 
IX. Börsenreform. Nachdem sich Deutsch- 
land von den Folgen des Jahrs 1873 erholt 
hatte, begann Ende der 1880er Jahre ein neuer 
Ausschwung im Wirtschaftsleben. Dieser Auf- 
schwung hatte aber spekulative Ausschreitungen 
und sonstige Mißbräuche im Gefolge. Im Herbst 
1891 folgten eine Reihe von Bankbrüchen, welche 
das Publikum in die größte Aufregung versetzten. 
Man rief um Abhilfe gegen die Auswüchse der 
Börse, welche für diese Vorfälle im letzten Grund 
verantwortlich gemacht wurde. Die Regierung 
nahm daher Veranlassung, durch eine umfangreiche 
Enquete die Zustände an den deutschen Börsen fest- 
zustellen, um dann die angezeigten Maßnahmen 
gegen gefundene Mißbräuche in Erwägung ziehen 
zu können. Die im vorausgehenden gemachten 
Ausführungen über das Börsenwesen geben im 
wesentlichen die Verhältnisse an der Börse wieder, 
wie sie durch die Börsenenquetekommission in den 
Jahren 1892 und 1893 dargetan wurden. 
Daß Auswüchse an der Börse vorkommen, liegt 
bis zu einem gewissen Grad in der Natur der 
Sache. Die Bedeutung der Börse als Mittelpunkt 
des wirtschaftlichen Lebens für den Markt, die 
Zusammenkunft einer Anzahl in verschiedenem 
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