981
Es waren die großen Lehrjahre seines Lebens,
in denen die unmittelbare Berührung mit den An-
forderungen der schweren Lage der Kirche und des
Volks in der vollendeten Hingabe an seine Pflich-
ten das Genie weckte und befruchtete. Mehr
als das bedeutete für ihn das günstige Geschick,
daß diese Lehrjahre wie seine ganze Jugend in jene
Zeit herrlicher Wiedererstehung des kirch-
lichen Lebens fielen, welche das Konzil von
Trient grundgelegt hatte, und die ihm vor Augen
stand in den blühenden Schulen der Jesuiten, in
dem Oratorium des Kardinals P. v. Berulle, in
den gelehrten Arbeiten der Benediktiner von St
Vannes (Verdun) und St-Maur bei Paris, in
der Errichtung von St-Sulpice (durch Jean
Jacques Olier) für den in der kirchlichen Disziplin
wie in der heiligen Wissenschaft tiefer zu festigen-
den Klerus, in den das ganze Land umspannenden
Anstalten des sozialen Apostels des modernen Frank-
reichs, des hl. Vinzenz von Paul (1576/1660),
in den Missionen für das Landvolk, in der Kon-
gregation der Missionspriester (1625) und der der
Schwestern der christlichen Liebe (1634). Es war,
wie Le Play (La Réforme sociale en France
I (Par. 18671 102 ff) nachweist, ein wunderbares
Aufblühen des religiös-sittlichen Volkslebens ent-
standen, eine Epoche sozialer und wirtschaftlicher
Restauration so machtvoller Art, daß die unbe-
schreibliche Zerrüttung des Volks unter den letzten
Valois (1515/89) überwunden schien. Freilich
hatten die Zwischenregierungen Richelieus und
Mazarins dem neuen Sieg der machiavellistischen
Politik in den Hofkreisen Vorschub geleistet, allein
bis zum Regierungsantritt Ludwigs XIV. (1661)
war der religiös-sittliche Ausschwung im Wachsen
geblieben und kämpfte mächtig gegen den neu em-
porwuchernden Geist sozial-religiöser Verkümme-
rung der Volks= und Staatsinteressen. Will man
die Bedeutung Bossuets richtig würdigen, so darf
man keinen Augenblick die Macht dieser religiösen
Restauration aus dem Auge verlieren. Sie allein
erklärt seine Erhebung wie das unermeßliche Un-
glück seiner falschen Stellungnahme zur Politik
Ludwigs XIV.
Bossuets erstes öffentliches Wirken,
sein Metzer und erster Pariser Aufenthalt, steht
ganz unter dem Zeichen der religiösen Restauration.
Aus der Zeit des Metzer Lebens ist an sein erstes,
charakteristisches Auftreten als Kontroversistin
dem Katechismusstreit mit dem Prediger Paul
Ferry zu erinnern. Dieser wollte 1665 in seinem
Catéchisme de réforme dela Religion bie beiden
Sätze erwiesen haben, daß die Reformation not-
wendig war, und daß man zwar vor ihrer Zeit
in der römischen Gemeinschaft noch sein Heil habe
wirken können, aber nach der Reformation sei dies
unmöglich. Bossuet, damals 27 Jahre alt, ant-
workete, daß die Reformation, wie die Gegner
sie unternommen, verhängnisvoll sei, und daß,
wenn man früher sein Heil in der Kirche habe
bewirken können, dies auch jetzt möglich sei.
Bossuet.
982
Mit dem Erweis dieser beiden Sätze stellt sich Bos-
suet auf die Schultern der altkirchlichen Apologetik,
indem er dem Calvinismus gegenüber ihre alte
Methode zu neuer glänzender Entfaltung brachte,
durch einfache, klare Darlegung der Kirchenlehre
die Mißverständnisse zu heben und durch die Zu-
rückführung der Kontroverse auf die Glaubens-
regel alle Abweichungen von der Kirchenlehre als
Menschenerfindung und Willkür zu erweisen.
Mit dem Jahr 1657 beginnt Bossuet zu Metz
neben und mit den Missionspriestern des hl. Vin-
zenz von Paul seinen bis heute unerreichten
Siegeslauf als klassischer Kanzelredner.
Schon 1661 und 1662 predigte er in der Louvre-
Kapelle vor Ludwig XIV., 1665 und 1668 vor dem
ganzen Hof in St-Thomas de Louvre und in
St-Germain, erscheint inzwischen häufig auf den
Kanzeln der Pfarrkirchen für die Abhaltung der
Advents= und Fastenpredigten, spricht an den
großen Kirchenfesten in unübertrefflicher Majestät
über die größten Glaubensgeheimnisse, bricht im
Genre der Heiligenreden neue Bahnen, hält vor
einfachen Klosterfrauen die unvergleichlichen, mehr
familiären Belehrungen und Betrachtungen über
das Evangelium, tritt als erwählter Prediger in
den großen Versammlungen des französischen Klerus
auf und schafft für sich vor den stolzen Versamm-
lungen des Hofes, seiner Würdenträger und der vor-
nehmen Welt das Genre der Oraisons funèbres,
dem in der gesamten Weltliteratur gleich Bedeut-
sames wohl nicht zur Seite zu stellen ist. Wenn
der Literaturkritiker Dés. Nisard (Hist. de la litt.
française II [Par. 1886] 416 ff) dafür hällt,
das Ideal des christlichen Klassizismus sei in den
Predigten Bossuets erreicht, so ist dem in Ein-
schränkung auf die Entwicklung des französischen
Klassizismus im 17. Jahrh. zuzustimmen, nicht
aber hinsichtlich der Zurückführung dieser seltenen
Erscheinung auf den Glanz der Regierung und
der Persönlichkeit Ludwigs XIV. Was Bossuet
direkt selbst über die Person des Königs sagte
(Serm. sur les Devoirs des rois, Oraison fu-
nebre de Marie-Thérèse d’Autriche, namentlich
Discours deréception al Académie française),
geht nicht über den Rahmen der hergebrachten An-
schauung seiner Umgebung hinaus. Der Vorwurf,
Bossuet sei ein Schmeichler und interessierter Lob-
redner des Königs und der Großen gewesen, er-
ledigt sich nach genauer Durchsicht der betreffenden
Stellen (in der 1890/97 hergestellten kritischen
Textausgabeder Euvres oratoires von J.Lebarq,
6 Bde, Par. u. Lille) dahin, daß er in die nach
den Gepflogenheiten seiner Zeit üblichen Kom-
pliments mit großer Sorgfalt Maßhaltung brachte,
oft durch ernste Mahnungen zum christlichen Leben
sie milderte, nie unwürdiger Schmeichelei zu zeihen
ist. Den Zug auf das Große und Erhabene, der
nach Nisard den Grundcharakter seiner Redekunst
bildet, hat er nicht lediglich aus den Zeit= und
Königsidealen, wie Nisard will (a. a. O. 425);
er schöpfte ihn aus seinen großen Anschauungen