Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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über die Würde und Erhabenheit des Christentums, 
welche freilich durch Zeit und Umgebung mächtig 
geweckt wurden. Der beispiellose Erfolg seiner 
Predigt beruht auf dem tief religiösen Charakter 
der Zeit, welcher noch alle Klassen des Volks in 
gleicher Weise durchdrang, auf der klassisch ein- 
fachen und doch vollendeten Darstellungsgabe der 
christlichen Lehre, auf der dem französischen Volks- 
genie angepaßten feierlichen Pracht seiner Diktion, 
auf dem Genie seiner Auffassung. 
Inknitten dieses aufsteigenden Ruhms hatte 
ihn Ludwig XIV. (Anfang Sept. 1670) zum 
Bischof von Condom ernannt, einem kleinen, 
in den Hugenottenkriegen fast vernichteten Bistum 
der Gascogne (Departement Gers). Am 21. Sept. 
erhielt er vom Bischof Le Tellier zu Ponteise, 
wo gerade die Versammlung des französischen 
Klerus abgehalten wurde, die Bischofsweihe; 
allein seine Ernennung zum Lehrer des Dauphin 
(23. Sept.) entzog ihn fürs erste aller oberhirt- 
lichen Tätigkeit. Gerade um diese Zeit beschäf- 
tigte sich Bossuet mit der kleinen Schrift: Ex- 
position de la doctrine catholique sur les 
matieres de controverse, einer auf die kürzeste 
Form und den einfachsten Ausdruck gebrachten 
Darlegung der wichtigsten Unterscheidungslehren 
nach den Entscheidungen des Konzils von Trient. 
Als das Büchlein auf unablässiges Drängen des 
eben zur Kirche zurückgekehrten Marschalls Tu- 
renne im Dez. 1671 erschien, war der Eindruck 
in Frankreich wie — nach baldiger Übersetzung 
in fast alle Sprachen — in Europa ein so gewal- 
tiger, daß sich allseits die tiefer angelegten Geister 
fragten: Wie war es möglich, daß die Religions- 
spaltung eintrat, und wie konnte man aus der 
katholischen Lehre ein solches Zerrbild machen? 
Als der Calvinist Jurien merkte, daß „die Welt 
wie versessen“ mit der Exposition sich befaßte, 
die Konversionen sich mehrten, kam er auf den 
Gedanken, das Büchlein für eine gefälschte Dar- 
legung der katholischen Lehre auszugeben. Eitles 
Bemühen! Die Approbationen der bedeutendsten 
Bischöfe der Zeit, aus Deutschland von dem 
Paderborner Bischof Ferdinand von Fürstenberg, 
von Kardinälen (Bona) und endlich des Papstes 
Innozenz XlI. (4. Jan. 1679) selbst — dieselben 
finden sich in der 12. Pariser Ausgabe von 1866— 
förderten die Bewegung zur Wiedervereinigung 
der getrennten Christenheit: sie war die Frucht 
der Einkehr und der Selbstbesinnung nach dem 
unbeschreiblichen Unglück der entsetzlichen Reli- 
gionskriege. Noch war Europa tiesf christlich, die 
religiösen Interessen und Fragen beherrschten noch 
das öffentliche Bewußtsein, und Frankreich stand 
als die katholische Vormacht im Vordergrund. 
Wie kam es, daß die religiöse Einheitsbewegung 
sich so schnell verflüchtigte, um erst unter andern, 
weniger erfreulichen Symptomen im 19. Jahrh. 
neu zu erwachen? 
Als Bossuet Ende Sept. 1670 auf die Vor- 
stellungen des Pariser Erzbischofs Perefixe, des 
  
Bossuet. 
  
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Kanzlers Le Tellier und des Königs eigenen Be- 
fehl: „Ich will einen Bischof haben!“ neben 
dem wenig tauglichen Grafen Montausier seine 
Lehrerstelle bei dem Dauphin antrat, 
sich seines Bistums begab und nach 18jährigem 
der Theologie, der Predigt, der Kontroverse ge- 
weihtem Leben nochmals für den zur Trägheit 
neigenden und für höhere Einwirkung wenig 
empfänglichen Prinzen sich in das Studium der 
Literatur und der weltlichen Wissenschaften ver- 
senkte, wurde er für 9 Jahre (bis 1679) in das 
Leben des glänzendsten aller europäischen Höfe 
hereingezogen. Was er in dieser Zeit erdachte 
und arbeitete, blieb lange der Welt verborgen. 
In einem gegen das Ende seiner Lehrtätigkeit an 
Papst Innozenz XI. gesandten Bericht bemerkt 
Bossuet, er habe neben der Leitung des regel- 
rechten Studiengangs mit drei Dingen für deren 
Abschluß sich befaßt: mit der allgemeinen 
Geschichte, um die letzten Gründe sowohl für 
die Festigkeit und Größe der Weltreiche als für 
deren in ruhelosem Wechsel sich erzeugenden Unter- 
gang zu finden, dann mit der „heiligen Po- 
litik“, ihren Grundsätzen und Quellen nach den 
Lehren und Beispielen der Heiligen Schrift, end- 
lich mit den Gesetzen und Gewohnheiten 
Frankreichs im Vergleich zu andern Ländern. 
Letztere Schrift scheint gänzlich verloren; von der 
„Politik“ sagt Bossuet, er habe sie dem Prinzen 
vorgetragen und zum Lesen gegeben; die „Welt- 
geschichte“ erschien 1681 (3. Aufl. von Bossuet 
selbst noch besorgt 1700), die Politik“ erst nach 
seinem Tod (1709). In dem Discours sur l’hi- 
stoire universelle wird Bossuet der Begründer 
der Geschichtsphilosophie vomlchristlichen 
Standpunkt, die in der Erhabenheit der Grund- 
anschauungen und in der Kunst geschichtlicher Dar- 
stellung unübertroffen ist. Er zeigt in drei Teilen 
die Erhebung und den Fall der Weltreiche, die 
Ursachen ihrer Größe und ihres Falles, die ge- 
heimnisvollen Absichten der Vorsehung mit den 
Personen und die verborgenen Hilfsmittel, mit 
denen sie die menschlichen Dinge nach ewigem 
Willen leitet, endlich die Heiligkeit und Autorität 
der Religion, die sich aus ihrer Festigkeit und 
ihrer Dauer ergibt. Man wirft der Schrift die 
zu große Systematisierung und idealistische Ver- 
wertung konkreter historischer Tatsachen vor. Mit 
mehr Recht beklagt Montalembert (Des intérets 
catholiques au XIXe siècle), daß für die 
Belehrung eines christlichen Fürsten, seine Rechte 
und Pflichten fast ausschließlich auf die Geschichte 
des jüdischen Volkes zurückgegriffen wird, trotz- 
dem „katholische Völker die Kirche zum unsterb- 
lichen Führer und den Kalvarienberg zum Aus- 
gangspunkt haben“. 
In denselben Fehler einseitigen Idealisierens 
nach anderer, zumal anthropologischer Seite ver- 
fiel Bossuet in den für die Erziehung des Dau- 
phins verfaßten philosophischen Schriften 
(Logique, 1. Ausg. v. Floquet 1828; Connais-
	        
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