Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Nachfolger, aus den Schriften Hincmars von 
Reims und der Zeitgenossen des Übergangs von 
der zweiten Dynastie zur dritten, mit einer Wolke 
von Zeugen, belehren müssen, daß das französische 
Königtum bis tief in die Periode der Renaissance 
hinein weder absolut noch erblich, sondern durch 
das Recht der Notabeln und die Mitwirkung der 
Generalstaaten konstituiert war. Hatten letztere 
doch vor kaum 67 Jahren noch in Paris (Okt. 
1614), freilich zum letztenmal, ihr Kontrollrecht 
gegenüber dem König ausgeübt, und war doch 
kein anderer als der 29jährige Bischof von Lucon, 
Armand Jean du Plessis de Richelieu, Sprecher 
des Klerus gewesen. 
Man wird Bossuet und seine Zeit nicht ver- 
stehen, wenn man nicht die tiefgehende Ande- 
rung im französischen Nationalcharakter vor Augen 
behält, welche in den republikanischen Zügellosig- 
keiten der Renaissance geboren, in dem Entsetzen 
der unaufhörlichen Religionskriege bis zum Ver- 
gessen der althergebrachten Staatsordnung sich 
gesteigert, in einer fast 54jährigen Regierung 
Ludwigs XIV. (1661 bis 1. Sept. 1715) Zeit 
zur Befestigung und Ausbildung fand, eine Re- 
gierung, die trotz des wildesten Kriegslebens die 
glänzendste, selbstmächtigste und folgenschwerste 
des ganzen Zeitalters wurde. Das neue absolute 
Königtum stand fertig da mit dem Tag, als 
Ludwig XIV., gerade 24 Jahre alt, auf die Nach- 
richt von Mazarins Tod (9. März 1661) vor 
dem Staatsrat dem Kanzler erklärte: „Ich werde 
fortan selbst mein erster Minister sein.“ Was das 
in der Wirklichkeit bedeutete, wurde der Welt in 
den wilden Straßenszenen in London und Rom 
um der sog. Vorrechte französischer Gesondtschaften 
willen klar, die auf des Königs Gutheißung alles 
Herkommen verhöhnten und in Rom nach den Ex- 
zessen des Herzogs von Créqui zu schmachvollen 
Demütigungen des Papstes führten, als Ludwig 
nach der Beschlagnahme Avignons und Venaissins 
den greisen Alexander VII. unter neuen Dro- 
hungen zum harten Frieden von Pisa (12. Febr. 
1664) zwang und im Angesicht Europas durch 
die Errichtung der Schandsäule gegen den Korsen 
das Haupt seiner Religion beschimpfte. Wenn 
nach kaum drei Jahren auch der letzte Widerspruch 
gegen solche Brutalitäten verstummt war, so be- 
greift man, daß in Frankreich eine neue Religion, 
der Royalismus um jeden Preis, eine neue Re- 
gierungsweise, der später seltsamerweise als ancien 
régime bezeichnete Absolutismus, eine neue natio- 
nale Moral, die gloire — ein entsprechendes Wort 
fehlt im Deutschen —, entstanden war, deren Herr- 
schaft sich alles beugte. Im Kultus des Roi-soleil, 
im blendenden Glanz des Hoflebens, in der Hul- 
digung einer selten schöngeistigen Literatur, im 
Ruhm einer zur Weltherrschaft sich drängenden 
Nation verwachsen Volk, Staatseinrichtungen, 
Religion, nationales Bewußtsein schnell zu jener 
moralischen Einheit, deren Ausdruck der L'Etat 
c'’est moi ist. Daß im wilden Taumel natio- 
Bossuet. 
  
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naler Selbstvergötterung Männer von solchem 
Ernst und Scharfblick wie Bossuet nicht sahen, 
daß diese Politik da enden mußte, wo sie geendet 
hat, im religiösen, politischen und sozialen Ruin 
des Landes, bleibt schwer verständlich; daß aber 
ein solcher Mann kraft der Größe seines Ansehens 
ein Hauptwerkzeug dieses Ruins, sein theologi- 
scher Wegbahner werden mußte, bleibt unter den 
überraschenden Konstellationen der Weltgeschichte 
eine der schmerzlichsten. Und doch kam es dazu. 
Das Lehramt beim Dauphin ging zu Ende. 
Mitten in den erneuten Triumphen seiner Bered- 
samkeit, seines Eingreifens in die Besserung der 
entsittlichten Hofverhältnisse (Profeß des Fräuleins 
de la Vallière, vorübergehende Trennung Lud- 
wigs XIV. von Madame de Montespan (1674 
bis 1677.), des immer weiter sich ausbreitenden 
Ruhms seiner Exposition de la doctrine catho- 
lique hatte ihn Ludwig bei Verheiratung des 
Dauphins durch Ernennung zum ersten Aumönier 
der Dauphine (8. Jan. 1680) in ein neues, 
engeres Verhältnis zum Hof gebracht. Schon seit 
8. Juni 1671 war er Mitglied der Akademie. 
Am 2. Mai 1681 gab Erzbischof de Harlay im 
besondern Auftrag des Königs einer bei ihm zu- 
sammengetretenen Bischofskonferenz seine Er- 
nennung zum Bischof von Meaur kund in 
einem Augenblick, da Colbert den Hofbischöfen 
offen das Schisma der französischen Kirche 
zumutete. 
Durch ein Edikt vom 10. Febr. 1673 hatte 
Ludwig XIV. das sog. Regalienrecht der 
Krone auf die Einkünfte aller vakanten Diözesen 
und Benefizien des Königreichs ausgedehnt und 
fünf Provinzen ihrer kirchlichen Privilegien und 
Freiheiten beraubt. Die zwei Bischöfe — es 
waren Jansenisten — von Pamiers und Alet 
hatten allein den Mut, sich gegen diesen Gewalt- 
streich zu erheben und jede Verletzung der kirch- 
lichen Gesetze zu zensurieren. Sie erduldeten mit 
ihren Diözesen und dem Klerus Unsägliches in 
diesem Kampf, zumal nachdem der Appell an 
ihre Metropoliten, die Erzbischöfe von Narbonne 
und Toulouse, als „dem kanonischen Recht wider- 
sprechend“ abgewiesen worden war. Da appel- 
lierten die beiden Bischöfe, wie es ihr Recht und 
ihre Pflicht war, an den Papst. Innozenz XI. 
bestätigte ihr Recht und beschwor in zwei Breven 
(März und Sept. 1678) den König, die Frei- 
heiten der Kirche zu achten; und als dieses nur 
größere Verfolgung und Bedrängnis über die 
Bischöfe und ihren Klerus brachte, folgte ein 
drittes Breve (29. Dez. 1679), in welchem der 
Papst mit Berufung auf die Verantwortung seines 
Oberhirtenamts erklärte: „Weder Ungemach noch 
Gefahren noch Stürme können uns erschüttern; 
denn dazu sind wir gesetzt worden, und wir halten 
unser Leben nicht für kostbarer als Ihr Seelen- 
heil und das unfrige.“ Ludwig antwortete nichts. 
Im Augenblick, wo das letzte Breve bekannt 
wurde, hielt die Versammlung des Klerus ihre
	        
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