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Sitzungen in St-Germain-en-Laye, und so weit
war der Knechtssinn durch Schmeichelei und
Schwäche schon befestigt, daß die Versammlung
dem König erklären ließ, nichts wäre imstande, sie
von ihm zu trennen. Das war das Schisma.
Von Colbert stammte der Plan, „die Majestät
des Throns“ durch die feierliche Erklärung eines
„Nationalkonzils“ zu schützen, und zwar durch die
Proklamation der „alten gallikanischen Lehre über
die Schranken der Papstgewalt“. Unter „Natio-
nalkonzil“ ist hier die auf Staatsgeheiß im Wider-
spruch mit dem kanonischen Recht und den hin-
sichtlich des Zusammentretens der Abordnungen
des französischen Klerus bestehenden Landesord-
nungen „gewählte“ und zur Auflehnung gegen
die Kirche und ihr Haupt zusammenberufene Ver-
sammlung von 1682 zu verstehen.
Bossuet ließ sich, ohne die Bullen für das Bis-
tum Meaux empfangen zu haben, von dem Zirkel
der Hofbischöfe, namentlich von den beiden Ver-
trauten Colberts, den Erzbischöfen von Paris und
Reims, de Harlay und Le Tellier, verleiten, die
Hauptrolle zur Inszenierung der Colbertschen Po-
litik zu spielen; er ließ sich zum Vertreter der
Pariser Metropole wählen. Es wurden im ganzen
Land unter dem Hochdruck der Regierungsorgane
und nach Instruktionen, welche die schlimmsten
Absichten der Regierung offen andeuteten, die
„Wahlen“ der bis auf die Namen von der Re-
gierung bestimmten Kandidaten getätigt; nur ein
Mann protestierte vor dem ganzen Land, der Ge-
neralvikar des Bischofs von Pamiers, Cercle; er
wurde auf dem Markt zu Toulouse in efügie
verbrannt. Unter den 8 Erzbischöfen, 26 Bi-
schöfen und 30 Priestern des „Nationalkonzils"
war (Gérin, Recherches historiques sur
Tassemblée du Clergé de 1682 (Par. 18891)
kein hervorragender Mann aus dem Klerus, kein
Name von Klang und Ansehen, Bossuet ausge-
nommen. Zur Eröffnung der „Versammlung
des französischen Klerus“ hielt Bossuet
(30. Okt. 1681) in der großen Augustinerkirche
seine viel bewunderte, rhetorisch kaum je über-
troffene theologische Rede Sur ’unité de l’Eglise,
worin er, wie er später an Kardinal d-Estrées
schrieb, „ohne die Lehre der gallikanischen Kirche
zu verraten, die römische Moajestät nicht habe be-
leidigen wollen“. Die Rede erregte solchen Bei-
fall, daß der König befahl und die Versammlung
beschloß, sie sofort drucken zu lassen. Am 1. Dez.
1681 war sie in allen Händen. Theologisch in
den Grundgedanken ihrer drei Teile betrachtet, ist
die Rede nur als Versuch Bossuets verständlich,
sein und seiner Zuhörer Gewissen zu beruhigen.
Während er im ersten Teil die Erhabenheit des
römischen Primats in glanzvollster Weise preist,
nimmt er im zweiten und dritten Teil dem römi-
schen Primat alles, was ihm diese einzige Stel-
lung sichert. Die römische Autorität ist nicht in-
fallibel, sondern bloß indefektibel, d. h. dem Irr-
tum zwar ausgesetzt, aber nicht von ihm über-
Bossuet.
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wältigt; in ihrem Verhalten nach außen, in der
Disziplin ist sie fallibel, neigt zur Beunruhigung
der fürstlichen Autorität, muß deshalb durch die
königliche Autorität und die Versammlung der
Bischöfe an die Kanones zum Schutz der „Grund-
sätze und Freiheiten“ des Landes erinnert, endlich
den allgemeinen Konzilien unterworfen werden,
um zu verhindern, daß sie der Kirche schade. Man
begreift, daß diese Rede, in der jede Zeile über-
legene theologische Gelehrsamkeit, formvollendete
Arbeit, strenge Selbstzucht verrät, jedes Wort ab-
gewogen ist, unter den damaligen Verhältnissen
wirken mußte; man begreift nicht, wie ihre Tendenz
und der mithöchster Kunst verhüllte Widerspruch in
ihren Grundgedanken übersehen werden konnte.
Am 11. Dez. 1681 gelangte die Regalienfrage
zur Diskussion; am 3. Febr. 1682 wurde das
königliche Dekret über die Ausdehnung der Rega-
lien auf ganz Frankreich angenommen. Am
19. März 1682 wurde die „Deklaration des
französischen Klerus über die kirchliche
Gewalt“ in der von Bossuet gegen den Bischof
von Tournai, Choiseul-Praslin, durchgesetzten
milderen Form angenommen. Ihr Hauptinhalt
(der in aller Breite den Inhalt verklausulierende
Wortlaut bei Walter, Fontes iur. eccles.
[1862] 27), den man leider in allerlei wenig
korrekten Fassungen liest, macht im 1. Art. dem
Papst jeglichen direkten wie indirekten Einfluß
auf die bürgerlichen Sachen streitig; im 2.
werden die Beschlüsse des Konstanzer Konzils
(sess. III und IV) über die Superiorität der
Konzilien über den Papst bestätigt; im 3. werden
für die französische Kirche alle besondern Vor-
rechte beansprucht; im 4. wird das Urteil des
Papstes in Sachen des Glaubens und der Sitten
erst dann für irreformabel oder infallibel erklärt,
wenn der Konsens der Kirche hinzutritt.
Am 22. März 1682 erschienen die königlichen
Edikte, welche die Deklaration zum Staatsgesetz
erhoben; ihnen folgte die Registrierung durch die
Parlamente unter Umständen, welche das ganze
Elend der französischen Kirche unter der Herrschaft
der Kronjuristen offenbar machten. Man denke
an die Talon, Pithon, Ferret, Dupuis und ihre
durch die gehässigste Sophistik und die niedrigsten
Schmeicheleien gegenüber der Krone gleich sehr
berüchtigte Rechtsprechung, welche J. de Maistre
(Del’Eglise gallic. II, c. 4) als eine permanente
Verschwörung der zeitlichen Gewalt gegen den
Papst im Interesse der vollen Trennung der Kirche
Frankreichs von Rom, als die systematische Vor-
bereitung der berüchtigten Zivilkonstitution des
Klerus bezeichnen konnte. Man darf diesen par-
lamentarischen Gallikanismus nicht mit
dem theologischen, dessen naturgemäße Folge und
Ubertreibung er war, verwechseln; er hat den
theologischen Gallikanismus nicht nur überboten
und überlebt, er bildet heute noch in der franzö-
sischen Rechtsprechung eine die Freiheit der Kirche
verkümmernde Tradition.