Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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schichtschreiber, Moralist, Theolog, Publizist und 
Kontroversist charakterisiert. 
Die anerkanntesten Parteihäupter, Jurien, Bas- 
nage, Burnet, erhoben sich gegen ihn und die das 
Erstaunen und Nachdenken Europas fesselnde 
Schrift. Aber Bossuet duldete so wenig ihre Aus- 
flüchte und Sophistereien, daß er neben der 1691 
gegen Basnage (Prediger zu Rotterdam) gerich- 
feten Defense de I’Histoire des variations 
von 1689 bis 1691 noch sechs hochbedeutsame 
Avertissements aux protestants folgen ließ, 
gleich vollendet und tief einschneidend wie die Hi- 
stoire, unvergleichlich, wie Ant. Arnauld urteilte, 
in der Kunst höherer Polemik. In der Defense 
wies er die Verteidigung der Verschwörung von 
Amboise durch Basnage, als den Gesetzen der 
politischen Unterordnung und allen Regeln der 
Kirche widersprechend, ab. Bei der Abfassung der 
Avertissements standen ihm, sagt Le Dien, die 
kriegerischen Machenschaften des Prinzen von Ora- 
nien und das in seinem Auftrag von Jurieu be- 
triebene Umsturzwerk vor Augen, im vierten Aver- 
tissement namentlich die englische Revolution, im 
fünften die Verteidigung der Monarchie gegen 
demokratische Umwälzungsversuche, nach Leibniz 
eine Denkschrift von höchster Bedeutung für Philo- 
sophen und Staatsmänner. Hier wie in allen sei- 
nen Kontroversschriften behandelte er seine Gegner 
nach der Mahnung des hl. Augustinus: „Sprich 
zu ihnen amanter, dolenter, fraterne, placide, 
mit Liebe und Milde, ohne Streit und in Frieden 
wie zu einem Freund, Nachbarn, Bruder.“ 
Bossuets europäischer Ruf als Kontroversist und 
Reunionist bewog den Herzog Johann Friedrich 
von Braunschweig, an den von Kaiser Leopold 
1691 veranlaßten Reunionsverhandlungen zwi- 
schen Rojas de Spinola, Bischof von Wiener- 
Neustadt, Gerhard Molanus, Abt von Loccum, 
und Leibniz teilzunehmen. Molanus' Vorschläge, 
von dem großen Unglück des religiösen Zwie- 
spalts für die deutsche Nation ausgehend, be- 
zweckten die Wiedervereinigung der Protestanten 
durch deren vorläufige Unterordnung unter den 
Papst und die Bischöfe in geistlichen Dingen, ihre 
Tolerierung als tote Glieder bis zur Berufung 
eines neuen Konzils durch den Papst und ihre 
Zulassung zu demselben mit beratender Stimme. 
Bossuet betonte, scharfsichtig die Aussichtslosigkeit 
aller Erörterungen auf diesem Boden durchschau- 
end, als notwendige Grundlage die Anerkennung 
der Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramts als der 
katholischen Glaubensregel; bei Molanus wie bei 
Leibniz scheiterten bei den Erörterungen über die 
konkrete Lehrgewalt und die Unterwürfigkeit unter 
sie die Unterhandlungen. 
Unter all diesen Arbeiten vergaß Bossuet keinen 
Augenblick die erhabenen Pflichten seines Bi- 
schofsamts, er lebte ihnen in Zurückgezogen- 
heit, Demut und Bescheidenheit, Einfalt, in un- 
verwandter Treue Tag um Tag, weder Alter noch 
Gesundheit noch Ermüdung noch Erniedrigung 
Staatslexikon. I. 3. Aufl. 
Bossuet. 
  
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scheuend. Unvergessen bleibt, was er zur Beleh- 
rung seiner Diözesanen, namentlich der Ordens- 
frauen, und der Gläubigen durch Herausgabe von 
Katechismen, Betrachtungs= und Erbauungs- 
schriften tat, die bis heute unübertroffen in ihrer 
Art sind wie die Elévations à Dieu sur tous 
les mysteres de la religion chrét. (1711), die 
Méditations sur I’Evangile (1731), Schriften, 
welche die höchsten Konzeptionen der theologischen 
Schriftforschung und Wer geläuterten Aszese auf 
den einfachsten, für jeden leicht verständlichen Aus- 
druck brachten, den zu bewundern jede Seite der 
Schriften Gelegenheit bietet. Dazu kam der fünf 
Jahre seines Lebens vollauf in Anspruch nehmende 
quietistische Streit mit Fenelon (s. d. Art.), der 
durch den ununterbrochenen Wechsel von Streit- 
schriften, die Stellung des Hofes und die große 
Wichtigkeit der in Rede siehenden theologischen 
Fragen zu den aufregendsten der Zeit gehörte. 
Dabei entzog Bossuet sich nicht den Verhandlungen 
des französischen Klerus über die wichtigsten Fra- 
gen der gallikanischen Kirche. Auf der Versamm- 
lung zu St-Germain-en-Laye (2. Juni 1700) 
setzte er durch, daß nicht bloß der Jansenis- 
mus sondern auch die laxistische Moral zensuriert 
wurde. 
Wie war es möglich, daß bei solcher Hingebung 
an seine Pflicht, bei so verzehrendem Eifer für die 
ihm anvertrauten Seelen Bossuet in seiner dem 
Apostolischen Stuhl gegenüber eingenommenen 
Stellung beharrte, trotz des trostlosesten Nieder- 
gangs des Glaubens und der Sitten vor seinen 
Augen, trotz der lauten Klagen seiner Freunde 
über die Wirkungen der Deklaration, trotz der 
eigenen bittern Erfahrungen? Die immer 
weiter getriebene Ausdehnung der weltlichen Juris- 
diktion über geistliche Dinge, klagte der Gallikaner 
Fleury, hat die Knechtung der Kirche herbei- 
geführt; man könnte eher einen Traktat von der 
Knechtung der Kirche als von ihren Freiheiten 
schreiben. Bossuet selbst mußte am späten Lebens- 
abend tief den Schmerz der Zensur seiner Hirten- 
briefe durch den Agenten des Kanzlers Pontchair= 
train (1699) erfahren. Fünfmal reichte er Denk- 
schriften und Klagen bei dem König ein; es er- 
regt Mitleid, ihn als Schutzflehenden vor Madame 
de Maintenon zu sehen mit der naiven Klage: 
„Man gebraucht die Freiheiten der Kirche gegen 
die Kirche.“ Fenelon, der einzige große Bischof 
Frankreichs, der das Frankreich drohende Unheil 
sofort erkannt hatte, rief: „Der König ist mehr 
das Haupt der Kirche als der Papst. Die Gewalt 
des Königs über die Kirche ist in die Hände der 
Zivilrichter gefallen.“ Unnütze Klagen! 
Bossuet hatte mit der Deklaration im Jahr 
1682 den verhängnisvollen Schritt auf einem 
Weg getan, wo seiner die bittersten Enttäu- 
schungen und, wie sein Sekretär Le Dieu von nun 
an immer wieder in seinem Tagebuch berichtet, 
die endlosen Unruhen und die quälenden Sorgen 
einer aussichtslosen Selbstrechtfertigung 
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