Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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warteten. Ludwig XIV. hatte ihm die Abfassung 
eines lateinischen Werks zur Rechtfertigung der 
Lehre des französischen Klerus aufgetragen. Das 
Werk war 1685 vollendet. Aber nun verboten die 
von Ludwig mit Rom eingeleiteten Ausgleichs- 
verhandlungen die Veröffentlichung. Als die fast 
10 Jahre hindurch von Innozenz XI., Alexan- 
der VIII. und Innozenz XII. für die Bischöfe ver- 
weigerten Bullen 1693 zu dem Ausgleich führten, 
daß Ludwig unterm 14. Sept. d. J. an den Papst 
die Zurücknahme des Edikts vom 22. März 1682 
berichtete, war fortan die Defensio für die Hof- 
politik hinfällig. Nicht so für Bossuet. Er ar- 
beitete sie um und gab ihr mit dem neuen Titel 
Gallia orthodoxa eine veränderte Form 1696. 
Aber die innere Unzufriedenheit mit dem Buch ließ 
ihn 1700, 1701 und 1702 nochmals die Schrift 
umgestalten. Noch kurz vor seinem Tod unterwarf 
er sie der Durchsicht. Als dieselbe 1730, 26 Jahre 
nach seinem Tod, zu Luxemburg in einer ersten Re- 
vision (Defensio declarationis celeberrimae, 
duam de potestate ecclesiastica sangit clerus 
gallicanus anno 1682, ex speciali iussu Lu- 
dovici Magni scripta et elaborata) und 1745, 
41 Jahre nach seinem Tod, zu Amsterdam von 
seinem Neffen in einer zweiten Revision erschien, 
da erhielt die Welt eine leidenschaftliche Bekämp- 
fung jener Lehren, die allgemach in der ganzen 
Kirche gegen die Deklaration von 1682 ein feier- 
liches Bekenntnis gefunden, der Lehren von dem 
unfehlbaren Lehramt des Papstes, von dem Vor- 
rang seiner Autorität vor den Konzilien, von seiner 
indirekten Gewalt über das Zeitliche, zumal in 
Fragen der zwischen Staat und Kirche strittigen 
Interessen. Klemens XII. stand von einer aus- 
drücklichen Verurteilung des Buches ab, wie Bene- 
dikt XIV. (Bulle an den Erzbischof von Compo- 
stela, 21. Juli 1748), „aus doppelter Erwägung, 
sowohl aus Rücksicht auf einen Mann wie Bossuet, 
der so viele Verdienste um die Religion hat, als 
aus der nur zu sehr gegründeten Furcht, neue Un- 
ruhen zu erregen“. 
Düstere Ahnungen über die Zukunft der Kirche 
in Frankreich verließen Bossuet in den letzten 
Lebensjahren nicht mehr. Nach der Ver- 
sammlung des Klerus von 1700 plante er eine 
Schrift zur Aufdeckung der Intrigen der aufs 
neue sich erhebenden jansenistischen Partei: „ein 
weit ausholender entscheidender Schlag muß ge- 
schehen“. Nach dem sog. „Kirchenfrieden“ (1668) 
hatten die Häupter der Partei sich ihm genähert, 
und Port-Royal kargte nicht mit dem höchsten 
Lobe. Als indes die Appellanten aufs neue und 
erbitterter als je die Streitfahne erhoben, nahm 
der 76jährige mit einem alle überraschenden Eifer 
die Herausforderung auf und schrieb den ersten 
Teil einer Abhandlung über die Autorité des 
jugements ecclésiastiques. Krankheit, Schwäche 
und der Tod hinderten die von vielen mit Sehn- 
sucht und Ungeduld jetzt erwartete Revision seiner 
Außerungen über den Heiligen Stuhl. Seit 1760 
Bossuet. 
  
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ist leider das Manuskript verschwunden. Das 
immer größere Umsichgreifen der Skepsis, der In- 
differenz und des Unglaubens betrübten den Greis 
aufs tiefste. „Die Gleichgültigkeit in Sachen der 
Religion“, rief er, „ist die Torheit des Jahrhun- 
derts, in welchem wir leben. Dieser Geist herrscht 
in England und in Holland schon allenthalben 
sichtbar; es ist ein Unglück, daß er sich zu sehr bei 
den Katholiken festsetzt.“ Als er dem Bischof von 
Fréjus, Fleury, seinen Hirtenbrief gegen die 
(rationalistische) Ubersetzung des Neuen Testa- 
ments von Richard Simon schickte, schrieb er: „Der 
Geist des Unglaubens nimmt jeden Tag mehr in 
der Welt zu; ich kann Gott nur danken, daß er 
mir noch die Kraft läßt, gegen diesen Strom mich 
zu stemmen.“ Doch dazu fehlte die Zeit. Arbeits- 
mutig, arbeitsfreudig, arbeitsmächtig blieb er bis 
in die letzten Lebenstage, schreibt sein Sekretär, die 
Verteidigung der Kirche und der Religion war bis 
zum letzten Atemzug der große Gedanke seines 
Lebens. In der Nacht des 12. April 1704 starb im 
schwersten Leiden der geistesmächtigste Mann des 
Jahrhunderts Ludwigs XIV. in solcher Geduld, 
Ergebenheit und Bußfertigkeit, daß alle ihn be- 
wunderten und beweinten. Hätte ihm Gott seine 
Tage noch um die seines Königs, um ein Jahr- 
zehnt verlängert, vielleicht hätte auch ihm das über- 
strömende Maß der wehevollen Schicksale des 
Königshauses wie des Landes die Augen geöffnet. 
Hatte der Krieg der großen Koalition (1686/97) 
noch mit dem für Frankreich günstigen Frieden von 
Ryswyk geendet, so erfüllten sich im Spanischen 
Sukzessionskriege (1701/14) mit seinen furcht- 
baren Niederlagen und den demütigenden Ver- 
trägen von Utrecht (1713) und Rastatt (1714) 
die Schicksale der Monarchie des Roi-soleil. 
Schon am 9. April 1711 war der Dauphin, der 
Zögling Bossuets, gestorben; auch die Familie des 
Herzogs von Burgund, des Zöglings Fenelons, 
auf den alle Hoffnungen einer besseren Zukunft 
gerichtet waren, starb ganz aus bis auf einen fünf- 
jährigen Prinzen, den der König unter der Regent- 
schaft des vor keiner Infamie und keinem Verbrechen 
zurückschreckenden Philipp von Orléans zurück- 
lassen mußte. Ludwig sandte wenige Monate vor 
seinem Tod an Papst Klemens XI. den Wider- 
ruf der vier Artikel. Nach Bossuets Tod fand sich 
kein Widerruf vor, wohl aber eine Weiter- 
führungseiner absolutistischen Königs- 
idee. 
Von 1700 an sügte er der Politique sacrée 
weitere vier Bücher hinzu, nun als Bischof gegen 
Ende seines Lebens öffentlich von seinen politi- 
schen Anschauungen sich Rechenschaft gebend. Noch 
am 18. Febr. 1704 drückte Bossuet das Ver- 
langen aus, die Schrift zu vollenden, am 12. April 
d. J. starb er, und sein wenig würdiger Neffe, 
der spätere Bischof von Troyes, mußte bis 1709 
warten, ehe die Druckerlaubnis und ein Verleger 
für die Schrift zu erlangen war — so groß war 
die Furcht vor jeder Art politischer Spekulation,
	        
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