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so gering das öffentliche Interesse an derselben ge-
worden. Durch die in vier neuen Büchern der
Politique sacrée ausgearbeitete Pflichtenlehre
des Königs werden Bossuets frühere Anschauungen
mannigfach verschärft.
Der Zweck der Regierung, das Wohl des
Staates, erfordert die Aufrechterhaltung einer guten
Konstitution im Innern (Religion und Gerechtig-
keit), die Ausnutzung der gebotenen Hilfsmittel
(Waffen, Räte, Finanzen usw.) und den Schutz
vor drohenden Unzuträglichkeiten. Der Fürst muß
die Religion erhalten durch sein Beispiel, durch
Strenge gegen die falschen Religionen. Die Miß-
achtung der Religionen und ihre Verfolgung ist
falsche Politik; gegen heuchlerische, interessierte
und übel verstandene Frömmigkeit ist Vorsicht und
Zurückhaltung geboten. Priestertum und König-
tum sind zwei unabhängige, aber geeinte Mächte.
Der König hat in strengster Weise den Krönungs-=
eid und den gewissenhaftesten Gebrauch der ihm
bewilligten Ernennung zu den Prälaturen zu
halten. Scharf betont Bossuet die besondere Ab-
hängigkeit der Fürsten von Gott und der Vor-
sehung sowie die dem französischen König besonders
obliegende Schutzpflicht der Kirche. Die Gerech-
tigkeit, in der die Könige gleichfalls das Abbild
des ewigen Richters sind, schließt jede rein arbiträre
Gewalt aus. Die Personen sollen frei, das Eigen-
tum heilig und unverletzlich sein. Gegen die Bos-
heit der Welt soll der Fürst standhaft und fest sein;
Milde, namentlich gegen den besiegten Feind,
bleibt der Ruhm der Regierung. Gerechtigkeit ist
unvereinbar mit Bestechlichkeit, Vorurteil, Träg-
heit, Zorn, Kabalen. Hinsichtlich der Kriege muß
unterschieden werden zwischen gerechten und un-
gerechten Beweggründen (Ehrgeiz, Eroberung,
Plünderung, Eifersucht). Die schlimmsten sind die
frevelhaften Bürgerkriege. Gott liebt den Krieg
nicht, aber kriegerische Könige und große Feld-
herren sind Geschenke seiner Vorsehung. Mili-
tärische Tugenden, Einrichtungen, Befehle, Ubun-
gen haben ihren Wert; der Ruhm steht höher als
das Leben usw. Reichtümer, die Finanzen, Handel
und Abgaben werden eingehend in Betracht ge-
zogen. Es gibt Ausgaben der Notwendigkeit, des
Glanzes, der Würde. Der Reichtum eines Staates
— Gold und Silber — ist die Frucht langen
Friedens, seine Quellen sind Handel, Schiffahrt,
Domänen, Tribute, Volksabgaben der Besiegten.
Der größte Reichtum des Königs sind die Men-
schen, deren Vermehrung durch Unterdrückung des
Luxus und des Müßiggangs, Erleichterung der
Eheschließungen und gute Kindererziehung anzu-
streben ist. An der Besprechung der Wahl und
Tätigkeit der Minister und Räte des Fürsten, an
dessen Benehmen und Familienhaltung schließt sich
die Besprechung der großen Gefahr der Versu-
chungen der Fürstengewalt, deren größte der Besitz
der Macht selbst ist, zumal wenn den Fürsten alles
zugestanden wird. Gegen den Mißbrauch der
Gewalt dienen die Betrachtung der Abhängigkeit
Bossuet.
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des irdischen Reiches von Gott, der Hinblick auf
den Tod, die Größe der eigenen Schwäche, der
Mangel an Einkehr in sich selbst und ähnliche
Beweggründe lediglich moralischer Wertung.
Überblickt man diesen Abschluß der „Politik“,
an deren Vollendung Bossuet die letzten und reifsten
20 Jühre seines Lebens setzte, so wird klar, warum
er den Ausweg aus den Irrungen der cäsaristischen
Politik Ludwigs XIV. qicht finden konnte. Der
unerschütterte Glaube an das absolute Recht des
Königtums trotz aller Erfahrung der letzten
20 Jahre sowie der Glaube an den eigenen Beruf
zu dessen Verteidigung ließ keinen Rücktritt, keine
Selbstkorrektur zu. Die Frage, warum Bossuet
zu solchem Ende seines Lebens= und Geistesganges
kommen konnte, ist ein Problem, dessen Lösung,
glauben wir, einzig auf historischem und erkenntnis-
theoretischem Weg möglich ist.
Die Renaissance hatte mit der Neubelebung der
antiken Staatsideale eine doppelte Richtung des
politischen Denkens geweckt: eine mehr ideale, mit
der sich im Anschluß an Plato die Erasmus,
Thomas Morus u. a. über das Elend und den
Niedergang der Zeit in ihren Staatsromanen
hinwegzuträumen suchten, und eine mehr reale,
welche im Anschluß an Aristoteles und die Schola-
stiker mehr prinzipielle, tiefere Einsicht in den poli-
tischen Verfall für eine bessere Zukunft zu gewinnen
suchten, eine Richtung, die in Frankreich mit La
Boétie und Bodin anhebt. Neben beiden Rich-
tungen bricht sich mit den Religionswirren des
17. Jahrh. eine neue, gegensätzliche Bahn. Renais-
sance und Reformation hatten nicht gehalten, was
sie versprochen: die Bewunderung der Antike war
in den Stürmen des religiösen Umsturzes, in
letzterem alle Hoffnung auf eine Regeneration der
christlichen Politik untergegangen. Der Politik
des Westfälischen Friedens, des notgedrungenen
Abfindens mit den gewordenen Zuständen, folgte
naturgemäß ein Wiedererstehen der cäsa-
ristischen Interessen und Erfolgs-
politik, und aus ihr machten, der Methode
Machiavellis folgend, seine Bewunderer jene idea-
listische Politik, als deren vornehmste Vertreter
Bossuet und Hobbes auftraten, ersterer zugunsten
des monarchischen, letzterer des republikanischen
Staates. Für Machiavelli war die Verherrlichung
der italienischen Kleinstaaterei im Licht der medi-
ceischen Hauspolitik das Ideal, für Thomas
Hobbes die des Cromwellschen Protektorats. Für
Frankreich, wo der Machiavellismus, längst am
Hof der letzten Valois eingebürgert, durch Richelien
und Mazarin national umgestaltet, in Lud-
wigs XIV. Königsideen sich verkörpert hatte, fand
sich eine ungleich größere Persönlichkeit zu ihrer
Verherrlichung in Bossuet.
Bossuet, ganz in die Tradition seiner Familie,
seiner Erziehung, seiner Hofstellungen sich ver-
tiefend, sah im Königtum ein volles Abbild der
göttlichen Weltregierung, eine Verwirklichung gött-
licher Absichten, die dem König als unmittelbarem
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