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Stellvertreter Gottes zustehe; alles staatliche und
soziale, selbst kirchliche Leben wird zu einem bloß
mechanischen, in seinem Wirken lediglich dem
Königsgesetze botmäßig. Damit war die organische
Entwicklung des Staatslebens aus den es bilden-
den und tragenden sozialen Faktoren verschoben.
Der Familie, der Kirche, den hierarchisch sich
gliedernden Staats= und Gesellschaftskörpern war
das Eigenleben, ihre geschichtliche Entwicklung,
ihre Rechte, Freiheiten und Traditionen verwehrt,
kurz, den unbedingt notwendigen konstitutiven Be-
dingungen jedes gesunden Staats= und Gesell-
schaftslebens ihre Autonomie genommen. Zurück-
gedrängt, blieb ihnen höchstens die Rolle einer im
Dienst des Königs und seines Willens auszu-
übenden mechanischen Funktion, genau in den vom
Königsgesetz, dem alleinigen und ausschließlichen
Recht im Staate, angegebenen Grenzen. Das
Monstrum eines theokratisch-absoluten Zivilstaates
für das bourbonische Königtum war die Konsequenz
der Bossuetschen Anschauungen.
Aus dieser irrigen Auffassung erklären sich die
Grundfehler der „Politik“, vorab die be-
ständig wiederkehrende Verwechslung des Rechts
mit dem Interesse, die gänzliche Verkennung oder
Mißdeutung der Freiheitsidee, die Mißachtung
alles Volksrechts auf Kosten des Königsrechts.
Bossuet geht nicht von dem Prinzip des Rechts,
sondern von der Tatsache der bestehenden Gewalt
aus; sie ist das höchste Recht. Gegen menschliche
Leidenschaft stellt Bossuet nur die Tatsache des
Interesses. Letzteres soll den Ursprung der Gewalt
erklären, zumal der monarchischen, wie auch deren
Erhebung zu einer absoluten, von Despotie kaum
zu trennenden. Wenn Bossuet selbst in den überall
von ihm beklagten menschlichen Schwächen keinen
Raum für die Freiheit, das „Prinzip jeder Un-
ordnung“, findet, so vergißt er die Fundamental-
wahrheit, daß keine Gesellschaft vom Recht allein
lebt, sondern von der Wurzel alles Rechts in der
geordneten, auf das Gute gerichteten freien Pflicht-
erfüllung. Was er daher alles von dem göttlichen
Wesen des Rechts, von der Legitimität der Re-
gierungen, in denen es sich verkörpert, von ihrem
quasi göttlichen Charakter, von dem Gehorsam
usw. sagt, ist einseitig und irreführend, weil das
den Menschen über das Tier erhebende Selbstbe-
stimmungsrecht zu sittlichen Handlungen ebenso
eine die Würde des Menschen garantierende gött-
liche Schöpfungstat ist, deren Verkennung kei-
nerlei gottgeordnetes Verhältnis zwischen Fürst
und Volk zustande kommen läßt und lediglich zu
einer Regierung führt, in der der König alles, das
Volk und der einzelne in seinen mannigfachen Le-
bensäußerungen nichts ist.
Indem Bossuet den Regierungen lediglich die
beständig wechselnde Grundlage der Tatsachen
gibt und aus ihnen bzw. ihren Interessen ein
souveränes Recht herleiten will, begeht er den wei-
teren radikalen Fehler der „Politik“ dadurch, daß
Bossuet.
1000
sation sie angehören, auf eine Regierungsform
unweigerlich festlegt, sie immobilisiert. Revolu-
tionen sind nur Störungen, Erschütterungen, die
in seinen Augen nichts sind als vorübergehende,
stets in dieser oder jener Form wiederkehrende Ab-
irrungen, die zu einer unveränderlichen Regierungs-
weise zurückführen. Im Widerspruch mit dem
sozialen Fortschritt, für den die Weltgeschichte
Zeugnis ablegt, im Widerspruch mit den Re-
gierungsweisen anderer Völker, für die doch dasselbe
Gesetz gelten muß, wendet Bossuet die Theorie
ausschließlich auf seine eigene Nation, auf die
Bourbonenmonarchie, deren Schäden er täglich
erkennen konnte, und jenen Fürsten an, dessen
Fehler, ihm mehr als irgend einem andern be-
kannt, für ihn nur Schwächen sind, unzertrennlich
von menschlichen Dingen.
Wie Bossuet in solcher Wirklichkeit, deren Hin-
fälligkeit ihm leibhaftig alle Tage vor Augen
stand, das reinste, das erhabenste Ideal seiner „Po-
litik“ finden konnte, bleibt bis auf einen gewissen
Punkt erklärlich, wenn man die grundstürzenden
Fehler der von ihm in seiner Apologie befolgten
Methode betrachtet. Er wandte auf die Theo-
rie der Regierung die Prinzipien und das dog-
matische Verfahren der Theologie an; gänzlich
von den Wegen der Scholastiker sich wendend,
brachte er Politik und Religion in so heillose
Verwirrung, daß von einer Unterscheidung von
Kirche und Staat, von der Verschiedenheit der
Grundsätze ihrer beiderseitigen Regierung wenig
die Rede ist. Und getreu dieser Verwirrung, die
wiederum aus seiner idealistischen Anschauungsweise
stammt, sucht er in den Schriften des Alten Testa-
ments mit Vorliebe den Typus einer vollendeten
Regierung und steht nicht an, in der theokratischen
Regierungsweise des Judenvolks und in seinen
Königen, Einrichtungen und Geschicken das vom
Heiligen Geist direkt geschaffene Vorbild für die
Politik aller Völker hinzustellen, ganz vergessend,
daß die Heilige Schrift kein Handbuch der Politik
ist, sondern jene göttlich geoffenbarten Lehren und
Grundsätze enthält, welche das Leben des Menschen
in allen seinen Gestaltungen, unbeschadet der Frei-
heit, regeln und leiten sollen zu den von Gott ge-
wollten ewigen Zielen.
Es gibt nichts Unsinnigeres, als die Theologen,
die Kirche, den Klerus für diese „Politik“ ver-
antwortlich zu machen; sie war das ausschließliche,
durchaus eigenartige Produkt Bossuets, entstanden
im Gegensatz zur Theologie und zur Kirche. Man
kann sie kurz charakterisieren als den präzisen
Ausdruck der französischen Weltpolitik Lud-
wigs XIV., deren unheilvoller Gegensatz gegen
Papst und Kirche, gegen die bestehende Staats-
ordnung Europas als legitim aus der Verherr-
lichung des absoluten Königtums erwiesen werden
sollte. Die „Politik“ entstand aus jener schweren
erkenntnistheoretischen Verirrung, die auch dem
Gallikanismus in der Gestalt, die ihm Bossuet in
er die Völker, gleichviel welcher Stufe der Zivili= der Deklaration von 1682 gab, ganz und gar zu-