Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Stellvertreter Gottes zustehe; alles staatliche und 
soziale, selbst kirchliche Leben wird zu einem bloß 
mechanischen, in seinem Wirken lediglich dem 
Königsgesetze botmäßig. Damit war die organische 
Entwicklung des Staatslebens aus den es bilden- 
den und tragenden sozialen Faktoren verschoben. 
Der Familie, der Kirche, den hierarchisch sich 
gliedernden Staats= und Gesellschaftskörpern war 
das Eigenleben, ihre geschichtliche Entwicklung, 
ihre Rechte, Freiheiten und Traditionen verwehrt, 
kurz, den unbedingt notwendigen konstitutiven Be- 
dingungen jedes gesunden Staats= und Gesell- 
schaftslebens ihre Autonomie genommen. Zurück- 
gedrängt, blieb ihnen höchstens die Rolle einer im 
Dienst des Königs und seines Willens auszu- 
übenden mechanischen Funktion, genau in den vom 
Königsgesetz, dem alleinigen und ausschließlichen 
Recht im Staate, angegebenen Grenzen. Das 
Monstrum eines theokratisch-absoluten Zivilstaates 
für das bourbonische Königtum war die Konsequenz 
der Bossuetschen Anschauungen. 
Aus dieser irrigen Auffassung erklären sich die 
Grundfehler der „Politik“, vorab die be- 
ständig wiederkehrende Verwechslung des Rechts 
mit dem Interesse, die gänzliche Verkennung oder 
Mißdeutung der Freiheitsidee, die Mißachtung 
alles Volksrechts auf Kosten des Königsrechts. 
Bossuet geht nicht von dem Prinzip des Rechts, 
sondern von der Tatsache der bestehenden Gewalt 
aus; sie ist das höchste Recht. Gegen menschliche 
Leidenschaft stellt Bossuet nur die Tatsache des 
Interesses. Letzteres soll den Ursprung der Gewalt 
erklären, zumal der monarchischen, wie auch deren 
Erhebung zu einer absoluten, von Despotie kaum 
zu trennenden. Wenn Bossuet selbst in den überall 
von ihm beklagten menschlichen Schwächen keinen 
Raum für die Freiheit, das „Prinzip jeder Un- 
ordnung“, findet, so vergißt er die Fundamental- 
wahrheit, daß keine Gesellschaft vom Recht allein 
lebt, sondern von der Wurzel alles Rechts in der 
geordneten, auf das Gute gerichteten freien Pflicht- 
erfüllung. Was er daher alles von dem göttlichen 
Wesen des Rechts, von der Legitimität der Re- 
gierungen, in denen es sich verkörpert, von ihrem 
quasi göttlichen Charakter, von dem Gehorsam 
usw. sagt, ist einseitig und irreführend, weil das 
den Menschen über das Tier erhebende Selbstbe- 
stimmungsrecht zu sittlichen Handlungen ebenso 
eine die Würde des Menschen garantierende gött- 
liche Schöpfungstat ist, deren Verkennung kei- 
nerlei gottgeordnetes Verhältnis zwischen Fürst 
und Volk zustande kommen läßt und lediglich zu 
einer Regierung führt, in der der König alles, das 
Volk und der einzelne in seinen mannigfachen Le- 
bensäußerungen nichts ist. 
Indem Bossuet den Regierungen lediglich die 
beständig wechselnde Grundlage der Tatsachen 
gibt und aus ihnen bzw. ihren Interessen ein 
souveränes Recht herleiten will, begeht er den wei- 
teren radikalen Fehler der „Politik“ dadurch, daß 
  
Bossuet. 
  
1000 
sation sie angehören, auf eine Regierungsform 
unweigerlich festlegt, sie immobilisiert. Revolu- 
tionen sind nur Störungen, Erschütterungen, die 
in seinen Augen nichts sind als vorübergehende, 
stets in dieser oder jener Form wiederkehrende Ab- 
irrungen, die zu einer unveränderlichen Regierungs- 
weise zurückführen. Im Widerspruch mit dem 
sozialen Fortschritt, für den die Weltgeschichte 
Zeugnis ablegt, im Widerspruch mit den Re- 
gierungsweisen anderer Völker, für die doch dasselbe 
Gesetz gelten muß, wendet Bossuet die Theorie 
ausschließlich auf seine eigene Nation, auf die 
Bourbonenmonarchie, deren Schäden er täglich 
erkennen konnte, und jenen Fürsten an, dessen 
Fehler, ihm mehr als irgend einem andern be- 
kannt, für ihn nur Schwächen sind, unzertrennlich 
von menschlichen Dingen. 
Wie Bossuet in solcher Wirklichkeit, deren Hin- 
fälligkeit ihm leibhaftig alle Tage vor Augen 
stand, das reinste, das erhabenste Ideal seiner „Po- 
litik“ finden konnte, bleibt bis auf einen gewissen 
Punkt erklärlich, wenn man die grundstürzenden 
Fehler der von ihm in seiner Apologie befolgten 
Methode betrachtet. Er wandte auf die Theo- 
rie der Regierung die Prinzipien und das dog- 
matische Verfahren der Theologie an; gänzlich 
von den Wegen der Scholastiker sich wendend, 
brachte er Politik und Religion in so heillose 
Verwirrung, daß von einer Unterscheidung von 
Kirche und Staat, von der Verschiedenheit der 
Grundsätze ihrer beiderseitigen Regierung wenig 
die Rede ist. Und getreu dieser Verwirrung, die 
wiederum aus seiner idealistischen Anschauungsweise 
stammt, sucht er in den Schriften des Alten Testa- 
ments mit Vorliebe den Typus einer vollendeten 
Regierung und steht nicht an, in der theokratischen 
Regierungsweise des Judenvolks und in seinen 
Königen, Einrichtungen und Geschicken das vom 
Heiligen Geist direkt geschaffene Vorbild für die 
Politik aller Völker hinzustellen, ganz vergessend, 
daß die Heilige Schrift kein Handbuch der Politik 
ist, sondern jene göttlich geoffenbarten Lehren und 
Grundsätze enthält, welche das Leben des Menschen 
in allen seinen Gestaltungen, unbeschadet der Frei- 
heit, regeln und leiten sollen zu den von Gott ge- 
wollten ewigen Zielen. 
Es gibt nichts Unsinnigeres, als die Theologen, 
die Kirche, den Klerus für diese „Politik“ ver- 
antwortlich zu machen; sie war das ausschließliche, 
durchaus eigenartige Produkt Bossuets, entstanden 
im Gegensatz zur Theologie und zur Kirche. Man 
kann sie kurz charakterisieren als den präzisen 
Ausdruck der französischen Weltpolitik Lud- 
wigs XIV., deren unheilvoller Gegensatz gegen 
Papst und Kirche, gegen die bestehende Staats- 
ordnung Europas als legitim aus der Verherr- 
lichung des absoluten Königtums erwiesen werden 
sollte. Die „Politik“ entstand aus jener schweren 
erkenntnistheoretischen Verirrung, die auch dem 
Gallikanismus in der Gestalt, die ihm Bossuet in 
er die Völker, gleichviel welcher Stufe der Zivili= der Deklaration von 1682 gab, ganz und gar zu-
	        
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