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grunde liegt. Bossuet wich in der Methode und
sachlich von dem großen Prinzip ab, welches die
Kirche immer betont und festgestellt hat, und dem
das Vatikanische Konzil feierlichen dogmatischen
Ausdruck in der Definition (Constit. Dei Filius
vom 24. April 1870, c. 4: De fide et ratione)
gab, „daß die katholische Kirche in ununterbrochener
UÜbereinstimmung fortwährend daran festhielt und
festhält, daß es eine doppelte Erkenntnisordnung
gibt, verschieden nicht nur dem Prinzip, sondern
auch dem Gegenstand nach: dem Prinzip nach,
weil wir in der einen kraft unserer Vernunft, in der
andern kraft göttlichen Glaubens erkennen; dem
Gegenstand nach, weil uns außer den Wahr-
heiten, welche die natürliche Vernunft erfassen kann,
Geheimnisse zu glauben vorgestellt werden, welche
in Gott verborgen sind, und welche nicht anders
als durch göttliche Offenbarung zu unserer Kennt-
nis gelangen können“. Bossuet hat diese Lehre in
doppelter Weise verletzt, einmal indem er die Ver-
schiedenheit der beiden Ordnungen unserer Erkennt-
nis nicht beachtete, dann indem er lediglich auf dem
Weg der Vernunfterkenntnis eine Welt der „Po-
litik“ konstruierte, deren Wahrheit und Wirklich-
keit wesentlich auf Erfahrung, auf Erkenntnis ihrer
göttlichen Grundgesetze und deren geschichtlicher
Entwicklung beruht.
Ungleich verhängnisvoller als in der „Politik“"
trat diese falsche Denkrichtung in dem Gallika-
nismus Bossuets zutage. Man hat den Galli-
kanismus definiert als die von Nationalstolz ge-
tragene radikale Verwechslung und Vermischung
von Göttlichem und Menschlichem, Staatlichem
und Kirchlichem, d. h. die Erniedrigung des Gött-
lichen und die Fälschung des Menschlichen, die
Mißhandlung der Kirche und die Irreleitung des
Staats. War der Traum der Bossuetschen „Po-
litik“ eine schwere Verirrung des politischen
Denkens, so wurde die Deklaration von 1682 im
Prinzip wie in den Folgen ein religiöses Unglück
von unabsehbarer Tragweite. Wir fassen ihre Kritik
hier lediglich aus politischem Gesichtspunkt.
Die Deklaration von 1682 sollte in den Augen
ihrer Urheber die religiöse Sanktion des Absolutis-
mus sein. Als Gärin seine „Forschungen über die
Versammlung von 1682“ abschloß, erklärte er
u. a. (S. 387): Die Deklaration beschränkt sich
auf folgende drei Normen: 1) Entziehung der bür-
gerlichen Gewalt und ihrer Träger aller Kontrolle
der Kirche und ihren Urteilen; 2) Superiorität des
Konzils über den Papst; 3) Unterwerfung der
päpstlichen Entscheidungen unter das Urteil der
Kirche. Auf Grund des ersten dieser Sätze wurde
nach ihrer Erklärung durch die Kronjuristen der
Allerchristlichste König nicht minder wie der letzte
seiner Beamten, welches Verbrechen sie auch gegen
alles göttliche und menschliche Gesetz begehen
mochten, für frei von der Schlüsselgewalt erklärt.
Sie hielten sich fortan berechtigt, den päpstlichen
Zensuren zu trotzen (Lavardin vor den Toren des
Vatikans, 1688). In der zweiten Norm fand die
Bossuet.
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Macht der Laien das Mittel, ungestraft in die
zeitlichen oder selbst geistlichen Prärogativen der
Kirche einzugreifen, den Papst ewig durch die
Berufung auf ein allgemeines Konzil in Schach
zu halten. Die dritte gallikanische Norm konnte
zu den seltsamsten Konsequenzen führen. Wie der
König das Plazet über die geistlichen Dekrete und
das Privilegium sich angemaßt hatte, die Abhal-
tung von Konzilien in seinem Staat zu erlauben
oder zu verbieten, so konnte er die Bischöfe hin-
dern, ihre Zustimmung zu den Dekreten des Apo-
stolischen Stuhls zu erklären und selbst Kenntnis
davon zu nehmen. Das hieß doch den Heiligen
Stuhl zur vollständigen Isolierung und Ohnmacht
verdammen, von den Hirten trennen und das
Schisma vorbereiten. Das waren die „Frei-
heiten“! Und ihr Wesen, ihr wahrer Charakter?
In den Mémoires de Louis XIV pour l’instruc-
tion du Dauphin (hrsg. von Dreyß, 1 208) prägt
der König dem Dauphin die Hochachtung vor der
Religion und ihren Dienern ein, aber unter Nach-
achtung von drei Grundsätzen: „Der erste ist, daß
die Könige absolute Herrscher sind und natur-
gemäß die volle und freie Verfügung über alle
Güter haben, sowohl die weltlichen wie die geist-
lichen, um sie als weise Verwalter, d. i. nach den
Bedürfnissen des Staats, zu gebrauchen. Der
zweite ist, daß jene geheimnisvollen Namen von
Freiheiten und von Selbständigkeit der Kirche,
mit denen man versuchen wird, dich zu blenden,
alle, gleichviel ob Laien oder Tonsurierte, an-
gehen und keinen der Unterwürfigkeit gegen
den Fürsten entheben, da das Evangelium selbst
ihnen diesen Gehorsam in bestimmter Weise auf-
erlegt. Der dritte ist, daß alles, was man von
besonderer Bestimmung der Kirchengüter und der
Absichten ihrer Stifter sagt, nichts weiter als ein
grundloser Skrupel ist.“ Wer konnte gegen diese
Koransprüche im Namen der „Freiheiten“ und auf
Grund der Artikel von 1682 noch Einspruch er-
beben Etwa Bossuet auf Grund seiner „Po-
itik“?
Kann sich Bossuet freisprechen von der Mit-
schuld an jener Verkrüpplung des innern
Staatslebens, die man als das Ancien Régime
bezeichnet, dessen Bildung sich vor seinen Augen
vollzog parallel mit der Knechtung der Kirche?
Der König vollendete die Erniedrigung des Adels,
des Hochadels wie der Prinzen von Geblüt, indem
er ihnen jeden Charakter, jede Würde, jede Teil-
nahme an der Politik bis auf einige wesenlose
Etikettenfragen nahm. Den Adel, die höchsten
Staats= und Provinzialbeamten, die ganze Hof-
staffage und ihre Amüsements ordnete er den von
ihm meist aus der mittleren Bourgeeisie gewählten
Werkzeugen seiner absoluten Machtwillkür, wie
Colbert, Louvois usw., unter. Daß er mit dieser
svstematischen Erniedrigung des Adels eine der
Stützen des Throns zerstörte, mit der schroffen
Zentralisation das autonome Leben der Nation
schwächte, die Herrschaft der unfähigsten Günst-