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Mitteilung der eigenen Gedanken und Überzeu-
gungen. Diesem Recht entspricht der Anspruch
auf ungehemmten und staatlich unbeaufsichtigten
Gedankenaustausch, weil nur bei freier Bewegung
des Geistes auf den Gebieten der sozialen und
staatlichen Gemeinschaft die intellektuelle, sittliche
und religiöse Bildung und Vervollkommnung des
Menschen voll gefördert werden kann.
Die Freiheit des Gedankenaustauschs kann
jedoch mißbraucht werden; wie gegen jeden Miß-
brauch menschlicher Freiheiten, kann und darf
der Staat sich auch gegen den Mißbrauch der
schriftlichen oder mündlichen Mitteilung der Ge-
danken schützen, indem er seinen Organen unter
bestimmten, gesetzlich festgestellten Voraussetzungen
die Verletzung des Briefgeheimnisses gestattet.
Über diese gesetzlichen Schranken hinaus darf aber
der Staat weder in der Verwaltung noch in der
Rechtspflege die ihm zustehenden Aussichtsrechte
dazu mißbrauchen, die Gedankenmitteilungsfreiheit
zu verletzen. Der Staat würde daher rechtswidrig
handeln, wenn er in weiterem Umfang, als die
Gesetze gestatten, mündliche Außerungen der
Staatsangehörigen heimlich überwachen, ihnen
den schriftlichen Gedankenaustausch untersagen,
ihre schriftlichen Mitteilungen sich aneignen oder
ohne ihre Zustimmung öffnen wollte. Das Brief-
geheimnis und das Geheimnis der Telegramme
muß um so unverletzlicher sein, je größer der Ein-
fluß des Staats auf das Post= und Telegraphen=
wesen ist; die Garantien des Geheimnisses müssen
dort die sichersten sein, wo, wie in Deutschland,
Post und Telegraph als Staatsverkehrsanstalten
eingerichtet sind und verwaltet werden. — Die
Freiheit des Brief= und Depeschenverkehrs ist nicht
nur ein staatsrechtlicher, sondern auch ein völker-
rechtlicher Grundsatz. Den Gesandten steht un-
eingeschränkter und ungehemmter Brief= und
Depeschenverkehr mit dem Absenderstaat zu.
In Deutschlandist in den deutschen Grund-
rechten des Jahrs 1848 das Briefgeheimnis zu-
erst ausdrücklich gewährleistet; die älteren Ver-
fassungen garantierten die Freiheit der Person,
der Meinungen, des Denkens und Gewissens, was
die Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses voraus-
setzt. Die Verfassungen seit 1850 garantieren das
Recht der freien Meinungsäußerung durch Wort,
Schrift, Druck, bildliche Darstellung, unbeschadet
von Repressivgesetzen gegen den Mißbrauch dieses
Rechts. Die Gesetzgebung des Deutschen Reichs
gewährt gegen die Verletzung des Brief= und De-
peschengeheimnisses Garantien nach zwei Rich-
tungen hin: gegenüber Behörden und gegen-
über Privatpersonen. In Übereinstimmung mit
den deutschen Grundrechten des Jahrs 1848 be-
stimmt das Gesetz über das Postwesen des Deutschen
Reichs vom 28. Okt. 1871 in § 5: „Das Brief-
geheimnis ist unverletzlich. Die bei strafgericht-
lichen Untersuchungen und in Konkurs= und in
zivilprozessualischen Fällen notwendigen Aus-
nahmen sind durch ein Reichsgesetz festzustellen.“
Briefgeheimnis.
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Und die auf Grund des Art. 48 der Reichsver-
fassung erlassene Telegraphenordnung für das
Deutsche Reich vom 13. Aug. 1880 verpflichtet
in § 2 „die Telegraphenverwaltung, dafür zu
sorgen, daß die Mitteilung von Telegrammen
an Unbefugte verhindert, und daß das Tele-
graphengeheimnis auf das strengste gewahrt
werde“. Dementsprechend bestrafen die §§ 353,
354 und 358 des St.G.B. für das Deutsche Reich
Postbeamte, welche die der Post anvertrauten
Briefe oder Pakete in andern als den im Gesetz
vorgesehenen Fällen öffnen oder unterdrücken
oder einem andern wissentlich eine solche Hand-
lung gestatten oder ihm dabei wissentlich Hilfe
leisten, sowie Telegraphenbeamte und andere mit
der Beaufsichtigung oder Bedienung einer zu
öffentlichen Zwecken dienenden Telegraphenanstalt
betraute Personen, welche die einer Telegraphen--
anstalt anvertrauten Depeschen verfälschen oder
öffnen oder unterdrücken, oder von ihrem In-
halt Dritte rechtswidrig benachrichtigen, oder einem
andern wissentlich eine solche Handlung gestatten
oder ihm wissentlich dabei Hilfe leisten, und zwar
mit Gefängnis von 3 Monaten bis zu 5 Jahren,
woneben auf Verlust der Fähigkeit zur Bekleidung
öffentlicher Amter auf Zeit erkannt werden kann.
Strafbar ist schon der Vorsatz; Kenntnisnahme
vom Inhalt des unbefugt geöffneten Briefs ist
nicht erfordert. Der strafrechtliche Schutz des
Telegraphengeheimnisses reicht noch weiter wie der
des Briefgeheimnisses.
Eine Privatperson, welche einen ver-
schlossenen Brief vorsätzlich und unbefugterweise
öffnet, wird nach § 299 des St.G.B. auf den
Antrag des Verletzten mit Geldstrafe bis zu
300 M oder mit Gefängnis bis zu 3 Monaten
bestraft. Befugt ist aber keineswegs nur eine Be-
hörde, sondern unter Umständen auch eine Privat-
person (z. B. kraft disziplinarischer Berechtigung
oder berechtigter Selbsthilfe). Strafbar ist die Off-
nung durch die Privatperson, Kenntnisnahme vom
Inhalt ist nicht gefordert. Berechtigt zur Stellung
des Strafantrags sind Absender oder Mdressat.
Der staatsrechtliche oder der strafrechtliche Begriff
des Briefgeheimnisses decken sich nicht.
Die amtliche Offnung eines unbestellbaren
Briefs zur Ermittlung des Absenders, die even-
tuelle Vernichtung eines Briefs oder einer De-
besche wegen Nichtermittlung des Adressaten sind
als in den Zwecken des Post= und Telegraphen-
verkehrs gelegen gesetzlich gestattet.
Zur Wahrung des Briefgeheimnisses im Sinn
des Postgesetzes sind alle Post= und Telegraphen=
beamten verpflichtet; bei der Post nicht angestellte
Personen können nur das Briefgeheimnis im Sinn
des Strafgesetzbuchs verletzen. Das postalische
Amtegeheimnis verbietet den Postbeamten auch
die Mitteilung darüber, daß überhaupt eine Kor-
respondenz stattgefunden habe; sie sind auch nicht
zu Mitteilungen darüber befugt, welche Zeitung
jemand bei der Post bestellt hat.