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Der Erzbischof von Köln, Johannes Kardinal
v. Geissel, und seine Zeit, 1881).
Dies führt endlich auf den letzten und schwersten
Vorwurf, welcher der Bureaukratie gemacht worden
ist, daß sie sich nämlich als eine geschlossene selb-
ständige Macht zwischen Fürst und Volk stelle,
die besten Absichten des ersteren vereitelnd, jeder
Reform erfolgreichen Widerstand entgegensetzend,
selbst einem Systemwechsel gegenüber sich in un-
geschwächter Kraft behauptend. „Die Gefahren
des Beamtenabsolutismus“, schrieb Freiherr A.
v. Haxthausen, „haben wir am klarsten in Preußen
und Deutschland vor Augen. In Preußen war
er bis 1840 zu solcher Ubermacht gestiegen, daß
trotz der nirgends durch Gesetze eingeschränkten
Gewalt des Königs doch eigentlich nur die
Beamten herrschten. Eine dem Beamtentum miß-
liebige Kabinettsorder wird stets unterwege auf
der Leiter, wo sie herabkam, aufgefangen und
verschwand in den Aktenfaszikeln, ohne lebendig
zu wirken.“ Und weiter: „Wir erhielten die sog.
konstitutionelle Monarchie mit ihren Repräsentativ-
sormen. Aber nun sahen wir die Beamtenhierarchie
sich mit dem Konstitutionalismus auf das schönste
aussöhnen, sich in dessen Formen einschmiegen,
und das Beamtentum ist in diesem Augenblick
(1851) herrschender, mächtiger, willkürlicher, ab-
soluter als je!“ Ubereinstimmend hiermit klagt
eine Stimme aus einem ganz andern Lager, trotz
des im Jahr 1848 erfolgten Sieges des konstitutio-
nellen Prinzips sei in Bayern die Bureaukratie
die gleiche geblieben.
Die angeführten übelstände sind von ungleichem
Gewicht, und die darauf begründeten Klagen sind
zu verschiedenen Zeiten in verschiedenem Umfang
und ungleichem Grad erhoben worden. Daß sie
in Deutschland besonders lebhaft um die Mitte
des 19. Jahrh. laut wurden, ist leicht zu erklären;
denn während erst kurz zuvor das moderne Be-
amtentum seine letzte Ausgestaltung gefunden
hatte, wirkte bereits eine Reihe von Faktoren zu-
sammen, um in weiten Kreisen Unzufriedenheit
mit den bestehenden Einrichtungen und das Ver-
langen nach einer Umgestaltung der politischen
Verhältnisse wachzurufen. Die Ereignisse des
Jahrs 1848 waren die unmittelbare Folge dieser
geistigen Bewegung. Natürlich aber konnten die
neu errungenen konstitutionellen Rechte und Frei-
heiten nicht mit einem Schlag die Mißstände
sämtlich beseitigen, welche der politischen Auf-
regung der vorangegangenen Jahre zur Nahrung
gedient hatten. Seitdem dürfte ziemlich allgemein
eine ruhigere Betrachtung Platz gegriffen haben,
welche die berechtigten von den unberechtigten
Klagen trennen und zwischen solchen Übelständen
unterscheiden läßt, die voraussichtlich niemals
völlig überwunden werden, welche aber, zum
Teil wenigstens, die Bedeutung nicht haben,
die ihnen gelegentlich politische Mißstimmung
zu leihen versucht, und andern, von deren Aus-
rottung allerdings der gedeihliche Fortbestand
Bureaukratie.
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des zolütischen und sozialen Lebens abhängen
würde.
Ein gewisser Formalismus ist in der staat-
lichen Verwaltung unvermeidlich. Am deutlichsten
ist dies bei dem Finanzwesen, wo die Einhaltung
bestimmter Geschäftsformen die unerläßliche Vor-
aussetzung für Ordnung und Übersicht im Staats-
haushalt und die Möglichkeit einer Kontrolle
bildet. Es gilt aber auch von andern Gebieten.
Damit ist dann aber sofort das weitere gegeben,
daß die aufgestellten allgemeinen Normen nicht
die Eigenart jedes einzelnen Falls decken. Wo
3. B. die Versicherung gegen Brandschäden von
Staats wegen organisiert ist, müssen zur Be-
messung der Prämien bestimmte Kategorien unter-
schieden und festgehalten werden. Der Staat, der
das Interesse der Gesamtheit vertritt, kann sich
auf eine Individualisierung der Risiken, wie sie
eine Privatgesellschaft auf die Gefahr ihrer Aktio-
näre und Genossenschafter hin vornehmen mag,
nicht einlassen. Es wird dann nicht ausbleiben,
daß das allgemeine Schema nicht paßt. In sol-
chen und ähnlichen Fällen, zumal wenn die Hand-
habung untergeordneten Organen überlassen ist,
wird leicht als peinliche Schranke oder kränkende
Ungerechtigkeit empfunden, was in der Tat eine
schwer oder gar nicht zu beseitigende Folge öffent-
licher Administration ist. Nicht immer und nie-
mals sogleich kann durch einen neuen Akt der
Gesetzgebung oder durch eine authentische Inter-
pretation Abhilfe geschafft werden. Namentlich in
Zeiten des Übergangs, wo neue Formen des
wirtschaftlichen Lebens nach Berechtigung ringen,
werden Konflikte zwischen der vielgestaltigen Wirk-
lichkeit und dem „abstrakten Formalismus der
Bureaukratie“ nicht ausbleiben, gerade so wie
jeder neue Zolltarif im Anfang seiner Geltung
unvermeidlich die bekannten Zollkuriosa erscheinen
läßt, wo Sardinen in Büchsen als feine Metall-
waren verzollt werden usw.
Aber auch die Klagen sind nicht immer berech-
tigt, welche im Interesse korporativer Selbständig-
keit gegen bureaukratische Bevormundung
erhoben werden. Sie sind es da, wo ein kräftig
entwickeltes, von wahrem Gemeingeist getragenes
genossenschaftliches Leben einer bis ins einzelne
gehenden Beaufssichtigung unterworfen oder gar
direkten und von dem Belieben der Aussichts-
behörde eingegebenen Maßregeln ausgesetzt ist.
Sie sind es da nicht, wo der Rückhalt an einer
starken und von ihrem Aufsichtsrecht Gebrauch
machenden Staatsgewalt die numerisch oder wirt-
schaftlich schwächeren Genossenschaften gegen Ver-
gewaltigung oder Ausbeutung von seiten der
stärkeren schützt.
Anders liegt die Sache, wo es sich um wirk-
lich vorhandene und abstellbare Mißbräuche eines
bureaukratisch entarteten Beamtentums handelt.
Was zunächst ein ungebührliches Verhalten dem
Publikum gegenüber betrifft, so gilt die Regel,
daß niemand mehr zugemutet zu werden pflegt,