Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

1055 
als er sich gefallen läßt. Man erinnere sich also 
stets, daß es im modernen Staat für keinen 
Bürger, wie hoch gestellt er auch durch Geburt 
und Besitz, Intelligenz und Bildung sein möge, 
eine Ausnahmestellung dem Gesetz gegenüber 
gibt; man hüte sich, jemals eine ungerechtfertigte 
Anforderung zu stellen, und ziehe jederzeit die 
vielfach gebundene Lage des einzelnen Beamten 
billigerweise in Rechnung; aber man lasse ebenso 
niemals eine Ungehörigkeit von der andern Seite 
hingehen, sondern greife, wo die sofortige persön- 
liche Zurückweisung nicht angängig ist oder nicht 
ausreicht, zu dem Mittel der Beschwerde (Be- 
schwerderecht) bei der vorgesetzten Stelle, nötigen- 
falls sogar zu dem der öffentlichen Rüge durch die 
Presse oder die parlamentarische Diskussion. — 
Daneben aber kann hier sehr vieles durch zweck- 
mäßige Organisation der Behörden und verstän- 
dige Dienstvorschriften erreicht werden, 
welche den Beamten das Bewußtsein wach halten, 
daß das Interesse der Bevölkerung das Ziel ihrer 
Tätigkeit bildet. Manches, was zu den Desi- 
derien einer früheren Epoche gehört hat, dürfte 
seitdem, in Deutschland wenigstens, so ziemlich 
überall eingeführt sein, so die Einrichtung von 
Amtstagen, die Mitteilung der Entscheidungs- 
gründe an die Betroffenen usw. — Auf dem 
gleichen Weg ist sodann dem Überwuchern des 
mechanischen Dienstes, der Vielschreiberei und der 
gesamten unnötigen Vielregiererei zu steuern. 
Auch in dieser Beziehung ist gegen frühere Zeiten 
sicherlich vieles besser geworden. Dennoch wird 
niemand behaupten wollen, daß heutzutage nie 
mehr ein wahrhaft staatsmännischer Gedanke 
durch die Handhabung der Bureaus abgestumpft 
oder verzerrt, daß nicht manche Dienststunde mit 
nichtiger Tätigkeit ausgefüllt, daß alle geschäft- 
lichen Umwege beseitigt, daß nirgendwo mehr 
geschrieben statt gehandelt werde. Vorschläge zur 
Abhilfe aber, sollen sie nicht bei leeren Allgemein- 
heiten stehen bleiben, würden die Erörterung eines 
bestimmten Administrationsgebiets zur Voraus- 
setzung haben müssen. Die Hauptsache ist, daß 
an den Zentralstellen ein wahrhaft staatsmänni- 
scher Geist herrscht, der sich nirgendwo durch die 
geschäftige Scheintätigkeit untergeordneter Organe 
täuschen läßt, sondern überall auf eine Tätigkeit 
dringt, die dem wirklichen Interesse des sozialen 
Körpers entspricht. — Von großer Bedeutung 
für die Beseitigung des bureaukratischen Geistes 
ist sodann ohne Zweifel neben der sorgfältigen 
Auswahl die sachgemäße Ausbildung der Be- 
amten. Häufig genug wird gerade die auf fal- 
scher Erziehung und Unkenntnis beruhende Un- 
fähigkeit, dem wirklichen Leben zu dienen, der 
Grund für jenen geistlosen Schlendrian, jenes 
Aufgehen in dem leeren Außerlichen sein, welche 
die häßlichsten Schattenseiten des modernen Be- 
amtenlebens bilden. Seitdem in Deutschland die 
Regierungen mit dem Prinzip des Gehenlassens 
auf dem wirtschaftlichen Gebiet gebrochen haben 
Bureaukratie. 
  
1056 
und die Erfüllung großer sozialpolitischer Auf- 
gaben in wachsendem Umfang den Organen des 
Staates zugefallen ist, hat man wiederholt ernste 
Klage darüber vernommen, daß die Beamter hier- 
für, wenn nicht überhaupt für den Verwaltungs- 
dienst, mangelhaft und unzureichend ausgebildet 
seien. Die hiermit berührte Frage geht jedoch 
weit über den Rahmen dieses Artikels hinaus. 
Was endlich die politische Gefahr angeht, 
welche ein fest gegliedertes, nach außen abgeschlos- 
senes Beamtentum in sich birgt und worüber in 
jener früheren Periode von seiten der Anhänger 
des Alten wie von den Vertretern der liberalen 
Ideen gleichmäßig lebhafte Beschwerden geäußert 
wurden, so ist auch diese in der letzten Generation 
in Deutschland weniger bemerklich gewesen; die 
tiefgreifenden Umgestaltungen aller Verhältnisse 
nach innen und außen ließen sie zurücktreten. Mit 
dem Durchbruch der liberalen Prinzipien auf dem 
Wirtschaftsgebiet, mit Gewerbefreiheit, Handels- 
und Verkehrsfreiheit kamen nicht nur zahlreiche 
Punkte in Wegfall, an denen bisher der Übereifer 
oder die Beschränktheit staatlicher Organe sich 
fühlbar gemacht hatte, es wurde dadurch tatsäch- 
lich der Bureaukratie ein Teil ihrer Machtsphäre 
entzogen. Seitdem ist nun freilich wieder eine 
Wendung in den Anschauungen und zum Teil 
auch in der Gesetzgebung eingetreten. Man hat 
sich überzeugt, daß die schrankenlose Freiheit aus 
sich allein die Ordnung nicht zu erzeugen vermag, 
und beginnt die Befugnisse des Staates nach der 
Seite der Aufsicht wie der Exekutive wiederum zu 
verstärken. Und während eine Zeitlang die Ma- 
xime herrschend war, daß das Wirtschaftsleben 
soviel als möglich der freien Initiative der ein- 
zelnen und der privaten Erwerbstätigkeit über- 
lassen werden müsse, sind wir nunmehr wiederum 
in eine Periode der „Verstaatlichung“ eingetreten, 
wie besonders die Geschichte des Eisenbahnwesens 
in Preußen seit dem Ende der 1870er Jahre be- 
weist. Ein letzter und nicht minder bedeutungs- 
voller Schritt, die Macht des Beamtentums neuer- 
dings zu vermehren, ist sodann durch das Auf- 
greifen der großen sozialpolitischen Aufgaben von 
seiten der Gesetzgebung des Reichs geschehen. Die 
Durchführung der Fabrikgesetzgebung und die 
staatliche Organisation der Arbeiterversicherung 
schließen unvermeidlich einen erhöhten Einfluß 
der Behörden auf das wirtschaftliche Leben ein. 
Verschiedene Umstände begründen trotzdem die 
Hoffnung, daß die Bureaukratie in Deutschland 
zu einer solch übermächtigen Stellung, wie sie 
die Publizisten aus der Mitte des 19. Jahr- 
hunderts schildern, nicht mehr gelangen werde. 
Zunächst ist die moderne Gesetzgebung auf dem 
Gebiet der Staatsverwaltung bestrebt gewesen, 
jede Willkür der Aufsichts= und Vollzugs- 
organe tunlichst zu beschränken, möglichst wenig 
der diskretionären Befugnis zu überlassen, son- 
dern die Voräussetzung, die Art und die Grenzen 
des Eingreifens nach objektiven Kriterien zu be-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.