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als er sich gefallen läßt. Man erinnere sich also
stets, daß es im modernen Staat für keinen
Bürger, wie hoch gestellt er auch durch Geburt
und Besitz, Intelligenz und Bildung sein möge,
eine Ausnahmestellung dem Gesetz gegenüber
gibt; man hüte sich, jemals eine ungerechtfertigte
Anforderung zu stellen, und ziehe jederzeit die
vielfach gebundene Lage des einzelnen Beamten
billigerweise in Rechnung; aber man lasse ebenso
niemals eine Ungehörigkeit von der andern Seite
hingehen, sondern greife, wo die sofortige persön-
liche Zurückweisung nicht angängig ist oder nicht
ausreicht, zu dem Mittel der Beschwerde (Be-
schwerderecht) bei der vorgesetzten Stelle, nötigen-
falls sogar zu dem der öffentlichen Rüge durch die
Presse oder die parlamentarische Diskussion. —
Daneben aber kann hier sehr vieles durch zweck-
mäßige Organisation der Behörden und verstän-
dige Dienstvorschriften erreicht werden,
welche den Beamten das Bewußtsein wach halten,
daß das Interesse der Bevölkerung das Ziel ihrer
Tätigkeit bildet. Manches, was zu den Desi-
derien einer früheren Epoche gehört hat, dürfte
seitdem, in Deutschland wenigstens, so ziemlich
überall eingeführt sein, so die Einrichtung von
Amtstagen, die Mitteilung der Entscheidungs-
gründe an die Betroffenen usw. — Auf dem
gleichen Weg ist sodann dem Überwuchern des
mechanischen Dienstes, der Vielschreiberei und der
gesamten unnötigen Vielregiererei zu steuern.
Auch in dieser Beziehung ist gegen frühere Zeiten
sicherlich vieles besser geworden. Dennoch wird
niemand behaupten wollen, daß heutzutage nie
mehr ein wahrhaft staatsmännischer Gedanke
durch die Handhabung der Bureaus abgestumpft
oder verzerrt, daß nicht manche Dienststunde mit
nichtiger Tätigkeit ausgefüllt, daß alle geschäft-
lichen Umwege beseitigt, daß nirgendwo mehr
geschrieben statt gehandelt werde. Vorschläge zur
Abhilfe aber, sollen sie nicht bei leeren Allgemein-
heiten stehen bleiben, würden die Erörterung eines
bestimmten Administrationsgebiets zur Voraus-
setzung haben müssen. Die Hauptsache ist, daß
an den Zentralstellen ein wahrhaft staatsmänni-
scher Geist herrscht, der sich nirgendwo durch die
geschäftige Scheintätigkeit untergeordneter Organe
täuschen läßt, sondern überall auf eine Tätigkeit
dringt, die dem wirklichen Interesse des sozialen
Körpers entspricht. — Von großer Bedeutung
für die Beseitigung des bureaukratischen Geistes
ist sodann ohne Zweifel neben der sorgfältigen
Auswahl die sachgemäße Ausbildung der Be-
amten. Häufig genug wird gerade die auf fal-
scher Erziehung und Unkenntnis beruhende Un-
fähigkeit, dem wirklichen Leben zu dienen, der
Grund für jenen geistlosen Schlendrian, jenes
Aufgehen in dem leeren Außerlichen sein, welche
die häßlichsten Schattenseiten des modernen Be-
amtenlebens bilden. Seitdem in Deutschland die
Regierungen mit dem Prinzip des Gehenlassens
auf dem wirtschaftlichen Gebiet gebrochen haben
Bureaukratie.
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und die Erfüllung großer sozialpolitischer Auf-
gaben in wachsendem Umfang den Organen des
Staates zugefallen ist, hat man wiederholt ernste
Klage darüber vernommen, daß die Beamter hier-
für, wenn nicht überhaupt für den Verwaltungs-
dienst, mangelhaft und unzureichend ausgebildet
seien. Die hiermit berührte Frage geht jedoch
weit über den Rahmen dieses Artikels hinaus.
Was endlich die politische Gefahr angeht,
welche ein fest gegliedertes, nach außen abgeschlos-
senes Beamtentum in sich birgt und worüber in
jener früheren Periode von seiten der Anhänger
des Alten wie von den Vertretern der liberalen
Ideen gleichmäßig lebhafte Beschwerden geäußert
wurden, so ist auch diese in der letzten Generation
in Deutschland weniger bemerklich gewesen; die
tiefgreifenden Umgestaltungen aller Verhältnisse
nach innen und außen ließen sie zurücktreten. Mit
dem Durchbruch der liberalen Prinzipien auf dem
Wirtschaftsgebiet, mit Gewerbefreiheit, Handels-
und Verkehrsfreiheit kamen nicht nur zahlreiche
Punkte in Wegfall, an denen bisher der Übereifer
oder die Beschränktheit staatlicher Organe sich
fühlbar gemacht hatte, es wurde dadurch tatsäch-
lich der Bureaukratie ein Teil ihrer Machtsphäre
entzogen. Seitdem ist nun freilich wieder eine
Wendung in den Anschauungen und zum Teil
auch in der Gesetzgebung eingetreten. Man hat
sich überzeugt, daß die schrankenlose Freiheit aus
sich allein die Ordnung nicht zu erzeugen vermag,
und beginnt die Befugnisse des Staates nach der
Seite der Aufsicht wie der Exekutive wiederum zu
verstärken. Und während eine Zeitlang die Ma-
xime herrschend war, daß das Wirtschaftsleben
soviel als möglich der freien Initiative der ein-
zelnen und der privaten Erwerbstätigkeit über-
lassen werden müsse, sind wir nunmehr wiederum
in eine Periode der „Verstaatlichung“ eingetreten,
wie besonders die Geschichte des Eisenbahnwesens
in Preußen seit dem Ende der 1870er Jahre be-
weist. Ein letzter und nicht minder bedeutungs-
voller Schritt, die Macht des Beamtentums neuer-
dings zu vermehren, ist sodann durch das Auf-
greifen der großen sozialpolitischen Aufgaben von
seiten der Gesetzgebung des Reichs geschehen. Die
Durchführung der Fabrikgesetzgebung und die
staatliche Organisation der Arbeiterversicherung
schließen unvermeidlich einen erhöhten Einfluß
der Behörden auf das wirtschaftliche Leben ein.
Verschiedene Umstände begründen trotzdem die
Hoffnung, daß die Bureaukratie in Deutschland
zu einer solch übermächtigen Stellung, wie sie
die Publizisten aus der Mitte des 19. Jahr-
hunderts schildern, nicht mehr gelangen werde.
Zunächst ist die moderne Gesetzgebung auf dem
Gebiet der Staatsverwaltung bestrebt gewesen,
jede Willkür der Aufsichts= und Vollzugs-
organe tunlichst zu beschränken, möglichst wenig
der diskretionären Befugnis zu überlassen, son-
dern die Voräussetzung, die Art und die Grenzen
des Eingreifens nach objektiven Kriterien zu be-