Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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gab bürgerliche Nahrung und die Befugnis zu 
Gütererwerb. Wer alle diese Befugnisse hatte, 
besaß das volle oder große Bürgerrecht. Wo nur 
das eine oder andere Recht erteilt wurde, sprach 
man von kleinem Bürgerrecht, Inkolat, von Recht 
der Beisassen, Schutzverwandten (vgl. oben Nr 2). 
Diese Unterscheidung des Bürgerrechts kommt be- 
sonders in Reichsstädten vor, wo die Teilnahme 
an den Stadtnutzungen sehr wertvoll war. Noch 
jetzt fällt denjenigen, die über das Armenwesen 
Studien machen, der Unterschied auf zwischen 
Städten, deren größte Bedeutung und Blüte in 
eine frühe Vergangenheit fiel, und solchen Städten, 
deren Aufschwung erst der neueren Zeit angehört. 
Erstere zeichnen sich durch mancherlei Stiftungen 
und durch den Fortbestand von trefflichen alten 
Bürgerversorgungsanstalten aus. In den mittel- 
baren Städten, d. i. in den Landstädten, war die 
Unterscheidung von großem und kleinem Bürger- 
recht etwas Seltenes. Der Einfluß, welchen die 
Landesherren in denselben auf die Erteilung des 
Bürgerrechts hatten (sog. Gnadenbürger), und die 
Vorteile, welche für die Fürsten in der Bevölkerung 
des Staats lagen, waren die Ursache, daß in sol- 
chen mittelbaren Städten jedem neuen Ankömm- 
ling ein volles oder großes Bürgerrecht erteilt 
wurde. Nach erlegtem Bürgergeld (Heiligengeld) 
wurde der neue Bürger zum Bürgereid zugelassen, 
sein Name in das Bürgerbuch (in die Bürgerrolle) 
eingetragen. 
Als Lichtseite bei Schilderung dieser nicht sehr 
erhebenden Zustände ist folgendes zu erwähnen: 
den Bürgerstand jener Zeit ziert große Moralität 
und Biederkeit. Seine Moralität hebt sich um so 
glänzender ab, wenn man ihn mit der gleich- 
zeitigen Gesunkenheit der höheren Stände zu- 
sammenhält. Er blieb sittlich in treuer, stiller 
Arbeit, pflegte ehrenfestes, frommes Familien- 
leben, hielt auf Gottesfurcht und Ehrbarkeit, und 
diese Züge blieben bis zum Anfang des 19. Jahrh. 
bestehen; besonders der Handwerkerstand zeigte ein 
lebhaftes Gemeinschaftsinteresse an allen städti- 
schen Angelegenheiten. 
Bei äußerer Verknöcherung und scheinbarer 
Unbeweglichkeit des Bürgerstands ging doch im 
Innern desselben eine bedeutsame Veränderung 
vor sich. Der politische Gegensatz zu den beiden 
ersten Ständen, Klerus und Adel, hielt äußerlich 
die gewerbliche Bevölkerung zusammen. Der 
dritte Stand des Ancien Regime vermittelt 
den Übergang vom Bürgerstand im alten Sinn 
einer gewerbliche Arbeit verrichtenden Volksklasse 
zum Bürgertum im neuen Sinn als Staatsange- 
hörigkeit und vollberechtigte Staatsgenossenschaft, 
oder gar als herrschende Gesellschaftsklasse. Der 
Grund zuder hervorragenden Stellung des Bürger- 
tums im neueren Sinn wurde in einer Zeit ge- 
legt, da der Wohlstand mittelalterlichen Städte- 
wesens, die alte Blüte von Gewerbe und Handel 
zu sinken begann. Seit dem 16. Jahrh. bildete 
sich nämlich, wie bemerkt, die Idee aus, die Unter- 
  
Bürgerstand. 
  
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tanen eines Staats als eine geschlossene Gemeinde 
zu betrachten und so gleichsam die städtische Ver- 
fassung auf den Staat zu übertragen, und seitdem 
verwendete man für die vollberechtigten Unter- 
tanen des Staats die Bezeichnung „Staats- 
bürger“. Der Humanismus und die antiken 
Ideen überhaupt trugen sehr dazu bei, das städ- 
tische Ubergewicht zu fördern. Das Leben der 
vornehmsten alten Völker war ein überwiegend 
städtisches gewesen. Ihre Hauptstaaten waren 
großenteils nur entwickelte Städte. Sonach mußte 
die hier geborne Literatur auch bei den Neueren 
das städtische Bürgertum fördern. Nicht minder 
trug die Reformation dazu bei, das Ständewesen, 
das sich allerdings sehr versteift hatte, die alte 
Gruppierung des Volks nach der Art der Arbeit 
zu lockern. Durch ihre leider mitunter begrün- 
deten Angriffe auf die beiden oberen Stände 
(Klerus und Adel) förderte sie den Absolutismus 
mit den ihm eigenen Gruppen Militär und Be- 
amtentum. Das reformatorische Wort vom all- 
gemeinen Priestertum, die Feindseligkeit gegen 
kirchliche Privilegien und kanonisches Recht griff, 
wie die Reformation überhaupt, nicht bloß Miß- 
bräuche, sondern das ständische Prinzip an. Was 
den Adelstand betrifft, so meint Luther: „Was 
schadet es, ein Fürst nehme eine Bürgerin und 
ließe ihm begnügen eines Bürgers Gut; es wird 
doch die Länge nicht taugen, daß eitel Adel mit 
Adel heirate." 
Noch entschiedener wendete sich der Absolutis- 
mus gegen die ständische Selbständigkeit. Wie er 
die landständischen Rechte schmälerte, so unter- 
drückte er das selbständige Leben in Stadt und 
Land. Damit übernahm er die moralische Ver- 
pflichtung, für die materielle Wohlfahrt zu sorgen. 
Auch die herrschende merkantilistische Wirtschafts- 
politik legte ihm dieses nahe. Der Adel jener 
Zeit hatte das Privilegium, daß er auf die Hof- 
ämter, diplomatischen und Offiziersstellen, hohen 
Kirchen= und Verwaltungsämter, auf gewisse mit 
besondern Vorrechten ausgestattete Güter aus- 
schließlich Anspruch hatte. Er durfte aber nicht 
Handel und Gewerbe treiben. Gerade da aber 
begannen durch Abweichen vom geCnossenschaft- 
lichen Prinzip sich Reichtümer zu bilden, die in 
späterer Zeit lawinenartig zu wachsen und über 
das niedere Gebiet der materiellen Interessen hin- 
aus Konsequenzen zu haben berufen waren. Je 
weniger politisch wichtig der Bürgerstand des 
18. Jahrh. ist, um so bedeutsamer ist die un- 
vermerkt steigende Wichtigkeit des beweglichen 
Besitzes, die Besorgung des wirtschaftlichen Lebens 
unter wachsender Betonung der Besitzherrschaft. 
Durch Bildung und Wohlstand einflußreich, wirkte 
das Bürgertum in Gemeinschaft mit der absoluten 
Fürstengewalt an der Umänderung der bisherigen 
Feudalverfassung mit. Die Landesherren streb- 
ten die gesamte Staatsmacht in ihren Händen 
zu vereinigen und der Adelsaristokratie gegen- 
über deren Untertanen, die Bauern, in Schutz
	        
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