1071
gab bürgerliche Nahrung und die Befugnis zu
Gütererwerb. Wer alle diese Befugnisse hatte,
besaß das volle oder große Bürgerrecht. Wo nur
das eine oder andere Recht erteilt wurde, sprach
man von kleinem Bürgerrecht, Inkolat, von Recht
der Beisassen, Schutzverwandten (vgl. oben Nr 2).
Diese Unterscheidung des Bürgerrechts kommt be-
sonders in Reichsstädten vor, wo die Teilnahme
an den Stadtnutzungen sehr wertvoll war. Noch
jetzt fällt denjenigen, die über das Armenwesen
Studien machen, der Unterschied auf zwischen
Städten, deren größte Bedeutung und Blüte in
eine frühe Vergangenheit fiel, und solchen Städten,
deren Aufschwung erst der neueren Zeit angehört.
Erstere zeichnen sich durch mancherlei Stiftungen
und durch den Fortbestand von trefflichen alten
Bürgerversorgungsanstalten aus. In den mittel-
baren Städten, d. i. in den Landstädten, war die
Unterscheidung von großem und kleinem Bürger-
recht etwas Seltenes. Der Einfluß, welchen die
Landesherren in denselben auf die Erteilung des
Bürgerrechts hatten (sog. Gnadenbürger), und die
Vorteile, welche für die Fürsten in der Bevölkerung
des Staats lagen, waren die Ursache, daß in sol-
chen mittelbaren Städten jedem neuen Ankömm-
ling ein volles oder großes Bürgerrecht erteilt
wurde. Nach erlegtem Bürgergeld (Heiligengeld)
wurde der neue Bürger zum Bürgereid zugelassen,
sein Name in das Bürgerbuch (in die Bürgerrolle)
eingetragen.
Als Lichtseite bei Schilderung dieser nicht sehr
erhebenden Zustände ist folgendes zu erwähnen:
den Bürgerstand jener Zeit ziert große Moralität
und Biederkeit. Seine Moralität hebt sich um so
glänzender ab, wenn man ihn mit der gleich-
zeitigen Gesunkenheit der höheren Stände zu-
sammenhält. Er blieb sittlich in treuer, stiller
Arbeit, pflegte ehrenfestes, frommes Familien-
leben, hielt auf Gottesfurcht und Ehrbarkeit, und
diese Züge blieben bis zum Anfang des 19. Jahrh.
bestehen; besonders der Handwerkerstand zeigte ein
lebhaftes Gemeinschaftsinteresse an allen städti-
schen Angelegenheiten.
Bei äußerer Verknöcherung und scheinbarer
Unbeweglichkeit des Bürgerstands ging doch im
Innern desselben eine bedeutsame Veränderung
vor sich. Der politische Gegensatz zu den beiden
ersten Ständen, Klerus und Adel, hielt äußerlich
die gewerbliche Bevölkerung zusammen. Der
dritte Stand des Ancien Regime vermittelt
den Übergang vom Bürgerstand im alten Sinn
einer gewerbliche Arbeit verrichtenden Volksklasse
zum Bürgertum im neuen Sinn als Staatsange-
hörigkeit und vollberechtigte Staatsgenossenschaft,
oder gar als herrschende Gesellschaftsklasse. Der
Grund zuder hervorragenden Stellung des Bürger-
tums im neueren Sinn wurde in einer Zeit ge-
legt, da der Wohlstand mittelalterlichen Städte-
wesens, die alte Blüte von Gewerbe und Handel
zu sinken begann. Seit dem 16. Jahrh. bildete
sich nämlich, wie bemerkt, die Idee aus, die Unter-
Bürgerstand.
1072
tanen eines Staats als eine geschlossene Gemeinde
zu betrachten und so gleichsam die städtische Ver-
fassung auf den Staat zu übertragen, und seitdem
verwendete man für die vollberechtigten Unter-
tanen des Staats die Bezeichnung „Staats-
bürger“. Der Humanismus und die antiken
Ideen überhaupt trugen sehr dazu bei, das städ-
tische Ubergewicht zu fördern. Das Leben der
vornehmsten alten Völker war ein überwiegend
städtisches gewesen. Ihre Hauptstaaten waren
großenteils nur entwickelte Städte. Sonach mußte
die hier geborne Literatur auch bei den Neueren
das städtische Bürgertum fördern. Nicht minder
trug die Reformation dazu bei, das Ständewesen,
das sich allerdings sehr versteift hatte, die alte
Gruppierung des Volks nach der Art der Arbeit
zu lockern. Durch ihre leider mitunter begrün-
deten Angriffe auf die beiden oberen Stände
(Klerus und Adel) förderte sie den Absolutismus
mit den ihm eigenen Gruppen Militär und Be-
amtentum. Das reformatorische Wort vom all-
gemeinen Priestertum, die Feindseligkeit gegen
kirchliche Privilegien und kanonisches Recht griff,
wie die Reformation überhaupt, nicht bloß Miß-
bräuche, sondern das ständische Prinzip an. Was
den Adelstand betrifft, so meint Luther: „Was
schadet es, ein Fürst nehme eine Bürgerin und
ließe ihm begnügen eines Bürgers Gut; es wird
doch die Länge nicht taugen, daß eitel Adel mit
Adel heirate."
Noch entschiedener wendete sich der Absolutis-
mus gegen die ständische Selbständigkeit. Wie er
die landständischen Rechte schmälerte, so unter-
drückte er das selbständige Leben in Stadt und
Land. Damit übernahm er die moralische Ver-
pflichtung, für die materielle Wohlfahrt zu sorgen.
Auch die herrschende merkantilistische Wirtschafts-
politik legte ihm dieses nahe. Der Adel jener
Zeit hatte das Privilegium, daß er auf die Hof-
ämter, diplomatischen und Offiziersstellen, hohen
Kirchen= und Verwaltungsämter, auf gewisse mit
besondern Vorrechten ausgestattete Güter aus-
schließlich Anspruch hatte. Er durfte aber nicht
Handel und Gewerbe treiben. Gerade da aber
begannen durch Abweichen vom geCnossenschaft-
lichen Prinzip sich Reichtümer zu bilden, die in
späterer Zeit lawinenartig zu wachsen und über
das niedere Gebiet der materiellen Interessen hin-
aus Konsequenzen zu haben berufen waren. Je
weniger politisch wichtig der Bürgerstand des
18. Jahrh. ist, um so bedeutsamer ist die un-
vermerkt steigende Wichtigkeit des beweglichen
Besitzes, die Besorgung des wirtschaftlichen Lebens
unter wachsender Betonung der Besitzherrschaft.
Durch Bildung und Wohlstand einflußreich, wirkte
das Bürgertum in Gemeinschaft mit der absoluten
Fürstengewalt an der Umänderung der bisherigen
Feudalverfassung mit. Die Landesherren streb-
ten die gesamte Staatsmacht in ihren Händen
zu vereinigen und der Adelsaristokratie gegen-
über deren Untertanen, die Bauern, in Schutz