Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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zu nehmen. Die öffentlichen Amter blieben nicht 
mehr Vorrecht des Adels, kamen auch in den 
Besitz des Bürgertums, der Begriff des letzteren 
wurde ein allgemeinerer, das Bürgertum wurde 
Vertreter und Vorkämpfer des gesamten nach 
Emanzipation vom Druck der widerspruchsvoll 
gewordenen Adelsprivilegien ringenden Volks. 
War in der Zeit des Absolutismus die ständische 
Gruppierung zu kastenartig durch äußere Privi- 
legien aufrecht erhalten worden, so umfaßte nun- 
mehr der Begriff Bürgertum die „ganze Gesell- 
schaft“, die nach politischer Freiheit und Mit- 
wirkung bei den Regierungsgeschäften strebte, da 
die finanziellen Lasten der Gemeinschaft in immer 
größerem Maße von ihr getragen wurden. Wie 
der Ausdruck „Zivilisation“ für höhere Bildung 
überhaupt beweist, geht das Streben des neueren 
Bürgertums nach Herrschaft im Staate regel- 
mäßig Hand in Hand mit dem andern Streben, 
wenigstens alle wohlhabenden und gebildeten 
Bewohner des Staatsgebiets in sich aufzu- 
nehmen. 
Namentlich in Frankreich hob sich der dritte 
Stand durch Bekleidung öffentlicher Amter in 
Justiz und Verwaltung, insbesondere solcher 
Amter, die lange Studien und kostspielige Vor- 
bereitung erheischten. Dem Adel blieben höchstens 
das Armeekommando, die Provinzialregierung 
und die Hoschargen. Besonders vertraten die 
Parlamente den dritten Stand und bildeten eine 
Art zweiter Aristokratie von großem Einfluß, 
noblesse de la robe. Dem französischen Bürger- 
tum kam in seinem Kampf die Möglichkeit zu- 
statten, sich auf einen großen Handelsplatz stützen 
zu können. In England kämpfte im Unterhaus 
Adel und Bürgertum gemeinsam gegen den Ab- 
solutismus. Am wenigsten politisch entwickelt 
war der Bürgerstand in Deutschland. Die Blüte 
der Poesie des 18. Jahrh., die Blüte der Wissen- 
schaft des 19. Jahrh. sind vorzugsweise vom 
Bürgertum ausgegangen, allein die alte Ver- 
fassung sah er teilnahmslos zerfallen, und erst in 
den Befreiungskriegen, teilweise unter dem Ein- 
fluß der Romantiker, machte sich das Bewußtsein 
geltend, daß man durch allgemeine Reformen 
bessern müsse. 
5. Die französische Gesetzgebung der Revolu- 
tionszeit löste das Recht der Niederlassung und 
Verehelichung, des Erwerbs von Grundstücken, 
des Betriebs von Gewerben, das Recht auf Armen- 
unterstützung von der Gemeindeangehörigkeit 
ab; damit fielen die Unterschiede zwischen Land- 
und Stadtgemeindeverfassung, und dieser Grund- 
satz fand in Deutschland, wenn auch langsam, 
Eingang. Am frühesten trennte die preußische 
Städteordnung die Verbindung von Bürgerrecht 
und Ansiedlungsrecht und akzeptierte das fran- 
zösische System der sog. Einwohnergemeinde. 
Die Ausdehnung des politischen Repräsentations- 
rechts hat die besondere Vertretung der Bürger 
und überhaupt das Prinzip der ständischen Ver- 
Bürgerstand. 
  
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tretung beseitigt. Die Aufhebung der Zwangs- 
und Bannrechte, der Zunftverfassung, die Ge- 
werbefreiheit, die Freizügigkeit beseitigten den 
Unterschied von Stadt und Land. Wo noch Unter- 
schiede zwischen Munizipal= und Dorfverfassung 
bestehen, kann das Wort Bürger auf die Ange- 
hörigkeit an eine Stadt= oder Marktgemeinde be- 
schränkt werden; wo aber wie in neuerer Zeit 
immer mehr Ahnlichkeit zwischen Stadt= und Land- 
gemeindeverfassung stattfindet, da ist jedes Mit- 
glied einer Gemeinde Gemeindebürger. Man 
unterscheidet immer mehr nur Staatsbürger 
und Ortsbürger. Der erstere besitzt Staatsbürger- 
recht, d. h. alle jene Rechte, welche einem Ange- 
hörigen des Staates zustehen; der Ortsbürger 
(s. Gemeindebürger) ist der Staatsbürger, in- 
sofern er einer Gemeinde angehört und im Besitz 
der einem Gemeindeglied zustehenden Rechte ist, 
als: bleibender Wohnsitz, Grundstückserwerb, 
Gewerbebetrieb, Unterstützungs= und Wahlrechte 
usw. (alles natürlich unter Berücksichtigung der 
Bestimmungen über Zugs-, Aufenthalts= und 
Gewerbefreiheit). Wo es noch Spuren der alten 
Vollbürgergemeinde gibt, haben ihre Mitglieder 
wenigstens keine politischen Vorrechte mehr, son- 
dern höchstens materielle Vorteile, Anspruch auf 
für „Bürger“ bestimmte Stiftungen und Ver- 
sorgungsanstalten. In einem ähnlichen Sinn ist 
Bürger in „Bürgervermögen“ gebraucht. Man 
versteht darunter in manchen Gemeinden noch vor- 
findliche Vermögenskomplexe, namentlich Liegen- 
schaften, deren Nutzung auch jetzt noch nach Sta- 
tut, Gewohnheit, Vertrag oder Urteil nicht jedem, 
sondern nur bestimmten Gemeindeangehörigen 
(Nachbargemeinde, Nutzungsgemeinde, Realge- 
meinde, s. Gemeinde) zusteht. Den Gegensatz 
zum Bürgervermögen bildet alsdann das Käm- 
mereivermögen, d. h. die für öffentliche Zwecke 
bestimmten Mittel. 
Nach der Julirevolution kam in Frankreich 
noch eine andere Bedeutung des Wortes Bürger- 
tum auf. Dem Adel, aber hauptsächlich dem 
peuple (Bauer, Arbeiter und Proletarier) wurde 
nämlich die Bourgeoisie gegenübergestellt und 
damit ein Gegensatz zwischen besitzenden und nicht- 
besitzenden Klassen, zwischen Kapitalisten und Ar- 
beitern bezeichnet. Unter dem Julikönigtum ge- 
langte das Bürgertum zu einer politischen Rolle. 
Man machte nun der besitzenden Klasse den Vor- 
wurf, daß sie den Platz der alten Aristokratie ohne 
deren Noblesse eingenommen habe, ihre Macht 
zugunsten ihrer eigenen Interessen gebrauche und 
für die niedern Schichten der Gesellschaft zu wenig 
tue. In der Tat hat die Vernachlässigung der 
unteren Klassen zum Sturz Louis Philippes und 
zur Februarrevolution beigetragen, in welcher der 
Zwiespalt zwischen der sich von den nationalen 
Interessen absondernden Bourgeoisie und den 
niedern Klassen zum gewaltsamen Ausbruch kam. 
Da die moderne wirtschaftliche Entwicklung in 
Europa im ganzen dieselbe Richtung einschlug, so
	        
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