Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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jedoch von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr den Ein- 
druck eines grundlosen und immer unerträglicher 
werdenden Privilegiums. Die Stellung zum Lan- 
desfürsten sicherte dem Adel den vor den gemeinen 
Untertanen ausgezeichneten Stand. Dazu kamen 
die Vorrechte seiner Güter, sein befreiter Gerichts- 
stand, die ausschließliche Befähigung zum Eintritt 
in die meisten Stifte. Besonders in jenen Terri- 
torien erhielt sich der Adel als erste Macht, wo# 
mit der Reformation der von Fürsten unabhängigste 
Stand der Prälaten entfallen oder doch machtlos 
war. Um den fürstlichen Glanz durch ein ansehn- 
liches Gefolge zu vermehren, wurden alle höheren 
Richterstellen mit Adligen besetzt und diesen die 
Funktion der Hofbeamten zugewiesen. Im Grund 
war letzteres der Hauptdienst und die Regierungs- 
verwaltung Nebendienst, da“ gewöhnlich einige 
wohlbefähigte bürgerliche Subjekte in untergeord- 
neten Stellen als Sekretäre u. dgl. die einiges 
Kopfzerbrechen in Anspruch nehmenden Arbeiten 
besorgten. Der Absolutismus gab dem Hof= und 
Dienstadel den Vorzug vor dem unabhängigen 
Grundadel. Mit dem Glanz des Hoflebens und 
der Ansiedlung des Adels in den Residenzstädten 
hängt deren Anwachsen zu Großstädten zusammen, 
während die Burgen zu Villen für sommerlichen 
Landaufenthalt oder schließlich als Ruinen zu land- 
schaftlichen Dekorationen herabsanken. Trotz der 
Zunahme des Staatshaushalts wurden die Gegen- 
leistungen des Adels für seine Vorrechte immer 
geringer. Die Rittergüter waren steuerfrei. Der 
Grund dieser Befreiung sollte der Ritterdienst sein. 
Allein dieser war auf die Verpflichtung, die sog. 
Ritterpferde zuleisten, zusammengeschrumpft. Man 
verstand darunter eine zu entrichtende Geldsumme 
für den ehemals geleisteten Ritter= und Hofdienst. 
Sie sollte etwa so viel betragen, als es kostete, einen 
Reiter in voller Rüstung ins Feld zu stellen und 
zu erhalten. Diese Leistung wurde aber immer 
geringer und stand noch dazu einem „rationellen“ 
Steuerwesen im Weg. Ahnlich wie die Steuer- 
freiheit seinerzeit durch das Lehnswesen, war die 
Zollfreiheit durch die Nichtbeschäftigung mit Han- 
del und Gewerbe motiviert gewesen. Nach und 
nach aber wurde auch dieses sowie manches andere 
„Vorrecht“, z. B. Militärfreiheit, Schriftsässigkeit, 
Siegelmäßigkeit, d. h. das Recht, Urkunden durch 
Beidrückung des Siegels die Wirkung einer öffent- 
lichen Urkunde beizulegen, unverständlich und der 
Adel immer mehr zu „einer Eigenschaft, vermöge 
welcher ein Staatsbürger bloß wegen seines Stan- 
des gesetzlich gegründete Vorrechte vor andern 
Staatsbürgern genießt“. 
Besonders unerquicklich und ungerecht waren 
die Adelsverhältnisse in Frankreich geworden, wes- 
halb auch dort der erste Sturm gegen die privi- 
16giés losbrach und die Vorschläge in jener denk- 
würdigen Augustnacht auf so geringen Widerstand 
stießen. Schon im Jahr 1787 proklamierte das 
amerikanische Grundgesetz: Die Vereinigten Staa- 
ten gewähren keinen Adel. Am 4. Aug. 1789 
Adel. 
  
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hob die französische Revolution alle Vor- 
rechte des Adels und am 19. Juni 1790 den 
ganzen Erbadel auf. Die Verfassung von 1791 
dekretierte einfach: Alle Adelstitel, jeder Unter- 
schied der Geburt, des Standes, der Klasse sind 
für immer abgeschafft. In der Schreckenszeit galt 
es schon als Verbrechen, adlig geboren zu sein, 
und schloß von jeder Anstellung der Republik in 
Zivil und Militär aus. Napoleon führte neue 
Adelstitel ein mit Majoraten, aber ohne bürger- 
liche Vorrechte. Auf ähnliche Weise verfuhren die 
Gesetzgebungen der dem französischen Kaiserreich 
nachgebildeten Staaten. 
Die Deutsche Bundesakte sicherte dem „ehe- 
maligen Reichsadel“ beschränkte familienrechtliche 
Autonomie, Anteil der Begüterten an der Land- 
standschaft, Patrimonialgerichtsbarkeit und privi- 
legierten Gerichtsstand. Die Standesverhältnisse 
der schon unter dem Reich landsässigen Ritter- 
schaft wurden lediglich der Gesetzgebung der ein- 
zelnen Staaten überlassen. Eine neuerliche Stütze 
erhielt die Autonomie des niedern Adels, wo sie 
landesrechtlich anerkannt geblieben ist, durch Art. 58, 
Abs. 2 des Einführungsgesetzes zum B.G.B. Trotz 
noch mancher bestehenden Vorrechte war der Ein- 
fluß des Adels schon in der ersten Hälfte des 
19. Jahrh. bedeutend gesunken. Es genügt, da- 
bei auf den Umstand hinzuweisen, daß vormals 
die ökonomische Macht vorwiegend in Grundver- 
mögen bestanden hatte, und dieses besaß größten- 
teils der Adel. Nachmals wurde jenes vom Kapital- 
und Mobiliarvermögen überholt. An dieser Wen- 
dung partizipierte der Adel deshalb nicht, weil 
lange Zeit Handel und Gewerbe als unritterliche 
Lebensbeschäftigung galten und die Verpflichtung 
bestand, sich beim Betrieb von Handwerk, Klein- 
handel und Lohndienst der Führung des Adels- 
prädikats zu enthalten. — War auf der einen 
Seite Erwerbung neuen Vermögens erschwert, so 
traten auf der andern Seite verschiedene seinem 
Grundvermögen ungünstige Verhältnisse ein. Die 
Gesetzgebung beförderte die Zersplitterung, indem 
sie „aus wirtschaftlichen Gründen" die Aufhebung 
der Fideikommisse, Majorate und ähnlicher In- 
stitute, welche die Erhaltung des Reichtums und 
Ansehens adliger Familien bezweckten, begünstigte. 
Auch verloren die adligen Güter fast überall die 
hergebrachte Steuer= und Einquartierungsfreiheit. 
Manche Sinekuren und Pflegeanstalten, die der 
Adel in Stiften, Klöstern und Orden fand, minder- 
ten sich, und schließlich kam noch der Umschwung 
in den bäuerlichen Verhältnissen hinzu. — Die 
Grundrechtedes deutschen Volksvom Jahr 1848/49 
zogen nur das letzte Fazit der Entwicklung, indem 
sie in Art. 2, 8 7 erklärten: Vor dem Gesetz gilt kein 
Unterschied der Stände, der Adel als Stand ist 
aufgehoben, alle Standesvorrechte sind abgeschafft. 
Doe dieser Grundsatz in die Verfassungen und Ge- 
setzgebungen der Einzelstaaten überging, ist der 
Adel gegenwärtig aus einem Stand eine ehren- 
volle erbliche Titulaturauszeichnung geworden.
	        
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