91
jedoch von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr den Ein-
druck eines grundlosen und immer unerträglicher
werdenden Privilegiums. Die Stellung zum Lan-
desfürsten sicherte dem Adel den vor den gemeinen
Untertanen ausgezeichneten Stand. Dazu kamen
die Vorrechte seiner Güter, sein befreiter Gerichts-
stand, die ausschließliche Befähigung zum Eintritt
in die meisten Stifte. Besonders in jenen Terri-
torien erhielt sich der Adel als erste Macht, wo#
mit der Reformation der von Fürsten unabhängigste
Stand der Prälaten entfallen oder doch machtlos
war. Um den fürstlichen Glanz durch ein ansehn-
liches Gefolge zu vermehren, wurden alle höheren
Richterstellen mit Adligen besetzt und diesen die
Funktion der Hofbeamten zugewiesen. Im Grund
war letzteres der Hauptdienst und die Regierungs-
verwaltung Nebendienst, da“ gewöhnlich einige
wohlbefähigte bürgerliche Subjekte in untergeord-
neten Stellen als Sekretäre u. dgl. die einiges
Kopfzerbrechen in Anspruch nehmenden Arbeiten
besorgten. Der Absolutismus gab dem Hof= und
Dienstadel den Vorzug vor dem unabhängigen
Grundadel. Mit dem Glanz des Hoflebens und
der Ansiedlung des Adels in den Residenzstädten
hängt deren Anwachsen zu Großstädten zusammen,
während die Burgen zu Villen für sommerlichen
Landaufenthalt oder schließlich als Ruinen zu land-
schaftlichen Dekorationen herabsanken. Trotz der
Zunahme des Staatshaushalts wurden die Gegen-
leistungen des Adels für seine Vorrechte immer
geringer. Die Rittergüter waren steuerfrei. Der
Grund dieser Befreiung sollte der Ritterdienst sein.
Allein dieser war auf die Verpflichtung, die sog.
Ritterpferde zuleisten, zusammengeschrumpft. Man
verstand darunter eine zu entrichtende Geldsumme
für den ehemals geleisteten Ritter= und Hofdienst.
Sie sollte etwa so viel betragen, als es kostete, einen
Reiter in voller Rüstung ins Feld zu stellen und
zu erhalten. Diese Leistung wurde aber immer
geringer und stand noch dazu einem „rationellen“
Steuerwesen im Weg. Ahnlich wie die Steuer-
freiheit seinerzeit durch das Lehnswesen, war die
Zollfreiheit durch die Nichtbeschäftigung mit Han-
del und Gewerbe motiviert gewesen. Nach und
nach aber wurde auch dieses sowie manches andere
„Vorrecht“, z. B. Militärfreiheit, Schriftsässigkeit,
Siegelmäßigkeit, d. h. das Recht, Urkunden durch
Beidrückung des Siegels die Wirkung einer öffent-
lichen Urkunde beizulegen, unverständlich und der
Adel immer mehr zu „einer Eigenschaft, vermöge
welcher ein Staatsbürger bloß wegen seines Stan-
des gesetzlich gegründete Vorrechte vor andern
Staatsbürgern genießt“.
Besonders unerquicklich und ungerecht waren
die Adelsverhältnisse in Frankreich geworden, wes-
halb auch dort der erste Sturm gegen die privi-
16giés losbrach und die Vorschläge in jener denk-
würdigen Augustnacht auf so geringen Widerstand
stießen. Schon im Jahr 1787 proklamierte das
amerikanische Grundgesetz: Die Vereinigten Staa-
ten gewähren keinen Adel. Am 4. Aug. 1789
Adel.
92
hob die französische Revolution alle Vor-
rechte des Adels und am 19. Juni 1790 den
ganzen Erbadel auf. Die Verfassung von 1791
dekretierte einfach: Alle Adelstitel, jeder Unter-
schied der Geburt, des Standes, der Klasse sind
für immer abgeschafft. In der Schreckenszeit galt
es schon als Verbrechen, adlig geboren zu sein,
und schloß von jeder Anstellung der Republik in
Zivil und Militär aus. Napoleon führte neue
Adelstitel ein mit Majoraten, aber ohne bürger-
liche Vorrechte. Auf ähnliche Weise verfuhren die
Gesetzgebungen der dem französischen Kaiserreich
nachgebildeten Staaten.
Die Deutsche Bundesakte sicherte dem „ehe-
maligen Reichsadel“ beschränkte familienrechtliche
Autonomie, Anteil der Begüterten an der Land-
standschaft, Patrimonialgerichtsbarkeit und privi-
legierten Gerichtsstand. Die Standesverhältnisse
der schon unter dem Reich landsässigen Ritter-
schaft wurden lediglich der Gesetzgebung der ein-
zelnen Staaten überlassen. Eine neuerliche Stütze
erhielt die Autonomie des niedern Adels, wo sie
landesrechtlich anerkannt geblieben ist, durch Art. 58,
Abs. 2 des Einführungsgesetzes zum B.G.B. Trotz
noch mancher bestehenden Vorrechte war der Ein-
fluß des Adels schon in der ersten Hälfte des
19. Jahrh. bedeutend gesunken. Es genügt, da-
bei auf den Umstand hinzuweisen, daß vormals
die ökonomische Macht vorwiegend in Grundver-
mögen bestanden hatte, und dieses besaß größten-
teils der Adel. Nachmals wurde jenes vom Kapital-
und Mobiliarvermögen überholt. An dieser Wen-
dung partizipierte der Adel deshalb nicht, weil
lange Zeit Handel und Gewerbe als unritterliche
Lebensbeschäftigung galten und die Verpflichtung
bestand, sich beim Betrieb von Handwerk, Klein-
handel und Lohndienst der Führung des Adels-
prädikats zu enthalten. — War auf der einen
Seite Erwerbung neuen Vermögens erschwert, so
traten auf der andern Seite verschiedene seinem
Grundvermögen ungünstige Verhältnisse ein. Die
Gesetzgebung beförderte die Zersplitterung, indem
sie „aus wirtschaftlichen Gründen" die Aufhebung
der Fideikommisse, Majorate und ähnlicher In-
stitute, welche die Erhaltung des Reichtums und
Ansehens adliger Familien bezweckten, begünstigte.
Auch verloren die adligen Güter fast überall die
hergebrachte Steuer= und Einquartierungsfreiheit.
Manche Sinekuren und Pflegeanstalten, die der
Adel in Stiften, Klöstern und Orden fand, minder-
ten sich, und schließlich kam noch der Umschwung
in den bäuerlichen Verhältnissen hinzu. — Die
Grundrechtedes deutschen Volksvom Jahr 1848/49
zogen nur das letzte Fazit der Entwicklung, indem
sie in Art. 2, 8 7 erklärten: Vor dem Gesetz gilt kein
Unterschied der Stände, der Adel als Stand ist
aufgehoben, alle Standesvorrechte sind abgeschafft.
Doe dieser Grundsatz in die Verfassungen und Ge-
setzgebungen der Einzelstaaten überging, ist der
Adel gegenwärtig aus einem Stand eine ehren-
volle erbliche Titulaturauszeichnung geworden.