Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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derselbe erlangt eine um so größere Bedeutung, je 
verwickelter sich die rechtlichen Verhältnisse über- 
haupt und die Formen des gerichtlichen Verfahrens 
gestalten. Solange die Rechtsbildung einer — 
nach der Art der Arbeit — gegliederten Gesell- 
schaft sich einreihen konnte und jeder Kreis sein 
Recht wissen konnte und wußte, war Rechtskenntnis 
Gemeingut aller, Vertretung Sache der Genossen 
oder Verwandten. Wo, wie in der Gegenwart, 
die Gesetzgebung alle umfaßt, ergibt sich der Be- 
darf gewerbsmäßiger Rechtskenner und Rechts- 
pfleger. Da ist es für das öffentliche Leben und 
die politische Entwicklung eines Volks von wesent- 
lichem Einfluß, ob bei demselben der Advokaten- 
stand Unabhängigkeit und Ansehen genießt. — 
Mit Recht spricht daher Kaiser Anastasius von 
einem laudabile vitaeque hominum neces- 
sarium advocationis officium und nennt der 
französische Rechtsgelehrte d'Aguesseau (Oeuvres 
II 4) den Advokatenstand un ordre aussi ancien 
due la magistrature, aussi noble que la 
vertu, aussi nécessaire due la justice. Und 
ebenso wahr ist der Ausspruch, den Windthorst 
bei Beratung der deutschen Rechtsanwaltsordnung 
getan: „Ohne eine tüchtige Anwaltschaft kein 
ordentlicher Prozeß und keine wahre Vertretung 
bürgerlicher Freiheit!“ 
II. Bei den Römern unterschied man zur 
Zeit der Republik zwischen patronus und 
advocatus. Während ersterer die für den 
Klienten sprechenden Rechtsgründe in der ge- 
richtlichen Verhandlung auseinanderzusetzen hatte, 
unterstützte letzterer die Partei durch seinen rechts- 
gelehrten Rat und sein persönliches Ansehen (qui 
defendit alterum in iudicio, aut patronus 
dicitur, si orator est, aut advocatus, si 
aut ius suggerit aut praesentiam suam 
accommodat amico [Asconius in Cic., De 
div. 4, 11.). An sich bedurfte der orator keiner 
rechtsgelehrten Kenntnisse. Nach dem Edikt des 
Prätors konnte, mit wenigen Ausnahmen, über- 
haupt jeder Bürger pro alio postulare (i. e. 
desiderium amici sui in jure apud eum, qui 
iurisdictioni praeest, exponere vel alterius 
desiderio contradicere). Die Ausübung dieses 
ius postulandi war ursprünglich ein Ehrendienst. 
Erst in der Kaiserzeit wurde der Beruf der 
advocati oder causidici ein Gewerbe, 
welches die Tätigkeit des orator und advocatus 
bereinigte (advocatos accipere debemus omnes, 
qdui causis agendis quoquc modo operantur). 
Daneben werden noch pragmatici genannt, 
d. i. Konsulenten, deren Tätigkeit sich auf die 
Erteilung von Rechtsgutachten beschränkte. Seit 
dem 3. Jahrh. n. Chr. gab es einen eigenen 
staatlich organisierten und der Kontrolle der Magi- 
strate unterworfenen Advokatenstand. Bei jedem 
höheren Gericht war eine bestimmte Zahl Advo- 
katen angestellt so beimpraefectus praetorio 150, 
beim praekectus urbi 80), welche das mit Kor- 
porationsrechten ausgestattete Korpus toga- 
Advokatur. 
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torum unter einem primas (zugleich advocatus 
fisci) bildeten. Die Kandidaten (supernume- 
rarü#) konnten (vorausgesetzt, daß sie ss. catho- 
licae religionis mysterü#s imbuti und cohor- 
tali condicioni non subiacentes waren) in das 
Kollegium nur nach längerer Vorbereitung (neo 
antequam per statuta tempora legum eru- 
ditioni noscantur inhaesisse) aufgenommen 
werden, wenn der rector provinciae ihre Lebens- 
verhältnisse eingehend geprüft hatte und ihre Rechts- 
kenntnisse durch eidlich zu erhärtende Zeugnisse von 
Rechtslehrern festgestellt waren. Die ausgenom- 
menen Advokaten (statuti) wurden in die matri- 
cula eingetragen und mußten ihren Sitz an dem 
Ort des betreffenden Gerichts nehmen, welchen sie 
ohne Urlaub nicht verlassen durften. Bei Über- 
nahme einer jeden Rechtssache mußten sie einen 
Eid leisten, quod omni quidem virtute sua 
omnique ope, qucd verum et iustum existi- 
  
maverint, clientibus suis inferre procurent, 
nihil studi# relinquentes, duod sibi possibile 
est, non autem credita sibi causa cognita, 
duod improba sit vel penitus desperata et ex 
mendacibus allegationibus composita, ipsi 
scientes prudentesque mala conscientia liti 
patrocinentur, sed et si certamine procedente 
aliquid tale sibi cognitum fuerit, a causa 
E*“ ab huiusmodi communione sese 
penitus separantes. Advokatenzwang bestand 
nicht, außer für Personen, qui in totum pro- 
hibentur postulare, welchen, wie auch den Per- 
sonen, die einen Advokaten nicht finden konnten, 
der Prätor einen solchen zuweisen mußte? ait 
praetor: si non habebunt advocatum, ego 
dabo. Die Magistrate waren berechtigt, gegen 
die unter ihrer Disziplinargewalt stehenden Advo- 
katen Geld= und Gefängnisstrafen, zeitweise Sus- 
pension, ja vollständige Absetzung (ad tempus 
oder in perpetuum advocationibus interdicere) 
auszusprechen. Anderseits genossen sie viele Rechte, 
Privilegien und Immunitäten. Namentlich wurde 
der Advokatenerwerb von Hauskindern als pecu- 
lium quasi castrense angesehen. Ferner waren 
die Advokaten von lästigen Kommunal= und Pro- 
vinzialämtern befreit und hatten das Recht zur 
Führung ehrenvoller Titel nach ihrer Amtsnieder- 
legung. Der Advokatenstand war bei den Römern 
ein seminarium dignitatum, eine Pflanzschule 
für die wichtigsten Staatsämter, und genoß das 
höchste Ansehen: advocati, qui dirimunt am- 
bigua fata causarum suaeque defensionis 
Viribus in rebus saepe publicis ac privatis 
lapsa erigunt, fatigata reparant, non minus 
provident humano generi, quam si proelüs 
atque vulneribus patriam parentesque sal- 
varent .. militant namque causarum pa- 
troni, qui gloriosae vocis confisi munimine 
laborantium spem, vitam et posteros defen- 
dunt. — Was die Stellvertretung im rö- 
mischen Prozeß anbelangt, so wurden ursprünglich 
  
  
nach der Regel: nemo alieno nomine lege
	        
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