Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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neben der Sicherung ihrer Herrschafts= und Inter- 
essenpolitik die Verwirklichung des alten irreli- 
giösen Revolutionsprogramms ermöglichte. Einer 
der Vorarbeiter einflußreichster Art war Constant. 
Nach seinem Lebensgang hatte er das schwei- 
zerische und englische Verfassungswesen wie auch 
die absolutistische Hofpolitik in Braunschweig und 
Schweden kennen gelernt. Ruhelos tätig als 
Publizist und politischer Führer, Kenner des fran- 
zösischen Verfassungswesens, an dem er in der 
Marsfeldverfassung (s. oben) teilnahm, verfügte 
Constant über das beste Rüstzeug zur Anbahnung 
der „zweiten Revolution“ in parlamentarischer 
Form. So wurde seine Lebensaufgabe die her- 
vorragende Mitarbeit an jener Fälschung der 
nachrevolutionären Verfassungsbewe- 
gung, welche das traurige Erbe des 20. Jahrh. 
wurde. Diese Fälschung beruht auf der Ver- 
quickung des berechtigten Konstitutionalismus 
(Garantien für die Rechte und Freiheiten des 
Volks, Mitwirkung bei Erlaß der Gesetze und der 
Erhebung der Steuern, Kritik der Regierungs- 
maßnahmen usw.) mit den unberechtigten Forde- 
rungen der absoluten Freiheits= und Gleichheits- 
theorie von 1789, der Verneinung der rechtlichen, 
geschichtlichen und religiösen Grundlagen alles 
Verfassungslebens. Constant hat das Verfassungs- 
leben nie anders als in letzterem Sinn aufgefaßt. 
„Ich habe“, schreibt er (Mélanges de littérature 
et de politique (18291, Introd.), „vierzig Jahre 
dasselbe Prinzip verteidigt, Freiheit in allem, in 
Religion, Philosophie, Literatur, Industrie, Po- 
litik, und unter Freiheit verstehe ich den Triumph 
der Individualität ebensosehr über die Autorität, 
welche mittels des Despotismus regieren möchte, 
als über die Massen, welche das Recht bean- 
spruchen, die Minorität zugunsten der Majorität 
zu knechten.“ Man kann nicht schärfer das fast 
schon hundertjährige Spiel des Liberalismus mit 
dem Verfassungsleben charakterisieren. Und doch 
ahnte wenigstens Constant recht gut die Verwerf- 
lichkeit dieses Spiels. „Die Verfassungen“, schrieb 
er (Cours de politique constitutionnelle. Ré- 
flexions sur les constitutions 1 Léd. 1872) 
271), „bilden sich selten auf den bloßen Willen 
der Menschen hin; die Zeit macht sie; sie führen 
sich stufenweise und unmerklich ein. Indessen gibt 
es Umstände, und wir befinden uns in solchen, 
welche die Herstellung einer Verfassung unerläßlich 
machen. Aber auch in diesem Fall mache man 
nur, was unerläßlich ist; man lasse der Zeit und 
Erfahrung Raum, damit diese beiden Großmächte 
der Reform unsere schon konstituierten Gewalten 
in der Verbesserung dessen lenken, was schon vor- 
handen ist.“ Wo hat Constant, wo hat der kon- 
tinentale Liberalismus je Verfassungsarbeit in 
diesem Sinn geleistet? In seiner eigenen Stellung 
zur Monarchie der Restauration suchte Constant 
sich nach dem Grundsatz (Principes de politique, 
1816) zurechtzufinden, daß es für einen vernünf- 
tigen Republikaner leichter sei, ein konstitutioneller 
Constant de Rebecque. 
  
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Noyalist als ein Anhänger der absoluten Mon- 
archie zu werden; denn zwischen Republik und 
Konstitutionalismus sei nur ein formeller Unter- 
schied, zwischen Konstitutionalismus und abso- 
luter Monarchie sei der Unterschied ein wesentlicher. 
Von solchem Standpunkt behandelt Constant 
alle Lebensfragen einer konstitutionellen Regierung, 
vorab der damaligen französischen, mit einer Leiden- 
schaft und Breite, von der das heutige Geschlecht 
kaum eine Ahnung hat. Über 30 Monographien 
und Broschüren liegen allein von Constant vor, 
meist nur noch von historischem Interesse. Von 
solchem Standpunkt aus bespricht er die Frage der 
Erblichkeit der Mitgliedschaft der Ersten Kammer, 
ob die Zahl ihrer Mitglieder eine fest begrenzte 
sein solle, die Offentlichkeit der Verhandlungen, 
die Diätenfrage, die Frage der Initiative der 
Kammern, ihrer Erneuerung (ganz oder teilweise), 
der Zulässigkeit der Wiederwahl der Abgeordneten, 
die Zensusfrage, die unten noch zu besprechende 
Ministerverantwortlichkeit, die Beamtenverant- 
wortlichkeit, die Munizipalgewalt, die Art der 
Organisation der bewaffneten Macht, die gericht- 
lichen Garantien („eine Regierung verdient nur 
dann aufrechterhalten zu werden, wenn sie für 
das Recht der Bürger Garantien bietet“), ferner 
die Geschwornengerichte, Unabsetzbarkeit der 
Richter, Offentlichkeit der Gerichtsverhandlung, 
unter Verwerfung aller außerordentlichen Gerichte 
und Gesetze. 
Sein lebhaftes Eintreten für die Preßfrei- 
heit ist begreiflich. Im Jahr 1790 soll es 
350 Journale gegeben haben, um 1800 13 und 
während des Kaiserreichs 4. Zur Zeit der Restau- 
ration existierten 150 Zeitungen, darunter 8 poli- 
tische, seit 1829 300, darunter 20 politische. Im 
Eifer für die Preßfreiheit ging Constant zu weit. 
Nur Repression, nicht Prävention sei die Aufgabe 
der Regierung gegenüber der öffentlichen Meinung, 
denn „System des Despotismus ist, es sei immer 
besser, den Vergehen vorzubeugen als sie zu strafen“. 
Er wie seine Gesinnungsgenossen waren der An- 
sicht, die Zeitungen seien Schriften ganz eigener 
Urt, sie suchten den Leser auf, erneuten sich unauf- 
hörlich und nähmen teil an der Natur der öffent- 
lichen Ansprachen. — Ein weiterer wichtiger Ge- 
genstand, für den Constant mit Nachdruck eintrat, 
war die Ministerverantwortlichkeit und 
die dabei sich ergebenden verschiedenen Detail- 
fragen, z. B. über den Gerichtshof (Constant gibt 
diese Befugnis der Pairskammer), über die Natur 
der Strafen (die nicht entehrend sein sollen), über 
das (öffentliche) Verfahren, über das Begnadi- 
gungsrecht des Monarchen (zu bejahen), über 
die der Ministerverantwortlichkeit unterliegenden 
Handlungen usw. Die letzteren möchte Constant 
auf die Fälle innerhalb der gesetzlichen Zuständig- 
keit begangener Vergehen beschränken, die mit 
Überschreitung dieser Zuständigkeit begangenen 
unrechtlichen Handlungen dagegen als gewöhnliche 
Vergehen behandelt wissen. Nach der richtigen
	        
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