Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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agere potest, mit wenigen Ausnahmen keine 
Stellvertreter der Parteien zugelassen; doch durften 
in dem neueren Verfahren CKognitores und 
procuratores feierlich bzw. formlos bestellte 
Vertreter der Parteien, auftreten. Während ur- 
sprünglich der Prokurator als dominus litis, als 
die eigentlich prozessierende Partei galt und die 
Ergebnisse des Prozesses nur indirekt nach Maß- 
gabe des zwischen Partei und Prokurator bestehen- 
den Vertragsverhältnisses auf erstere übertragen 
werden konnten, wurde später dem Urteil eine 
unmittelbare Wirksamkeit für und gegen den do- 
minus ermöglicht. Rechtsgelehrter brauchte der 
Prokurator nicht zu sein, vielmehr wurde im all- 
gemeinen jedermann zur Prokuratur zugelassen; 
tatsächlich wurde dieselbe jedoch meist nur von 
Advokaten ausgeübt. Eine gerichtsverfassungs- 
mäßige Stellung hatte die Prokuratur nicht; doch 
wurden in der Kaiserzeit an verschiedenen Ge- 
richten öffentliche Prokuratoren angestellt, welche 
unter der Disziplinargewalt des Gerichtspräsi- 
denten standen. 
III. Das Kanonische Recht anerkannte aus- 
drücklich das Recht der Parteien, ihre Sache 
durch Advokaten bei Gericht vortragen zu lassen, 
unbeschadet ihrer Besugnis, den Prozeß in Selbst- 
person zu führen; doch konnte der Nichter einer 
Partei, welche zu einem gehörigen Vortrag außer- 
stande war, aufgeben, sich durch eine andere ge- 
eignete Persönlichkeit vertreten zu lassen. Im 
wesentlichen basierten die Bestimmungen des kano- 
nischen Rechts auf den Grundsätzen des römi- 
schen Rechts, an welchen es nur wenige Anderungen 
traf (insbesondere bezüglich der Zulassung zur 
Advokatur und Prokuratur). Es entwickelte sich 
eine Zweiteilung des Sachwalterberufs in Advo- 
katur und Prokuratur in der Weise, daß dem 
Prokurator die mündliche Verhandlung, dem Advo- 
katen die Rechtsausführung und die Abfassung der 
Schriftsätze oblag. Auch im kanonischen Recht 
wurde der Advokatenstand ausdrücklich als ein 
notwendiges Glied der Rechtspflege anerkannt: 
in omni judicio quattuor personas necesse 
est semper adesse, i. e. iudices electos, ac- 
cusatores idoneos, defensores congruos 
atque testes legitimos (Decr. Grat. c. 1, C.IV, 
qu. 4). Bezüglich der Fähigkeit zur Prokuratur 
war der Satz aufgestellt, daß regulariter, qui 
non prohibetur expresse ad exercendum 
Procurationis officium, idoneus debeat repu- 
tari. — Während im allgemeinen (wie teilweise 
schon nach römischem Recht) den Geistlichen die 
Ausübung der Advokatur und Prokuratur bei 
Strafe verboten war: elerici ... coram saecu- 
lari iudice advocati in negotiis saecularibus 
fieri non praesumant (c. 1—4 X ne clerici 
vel monachi saecularibus negotüis se im- 
misceant III 50), gestattete das kanonische Recht 
doch Ausnahmen, insbesondere für hilfsbedürftige 
Personen: nisi propriam causam vel ecclesiae 
suae fuerint prosecuti aut pro miserabilibus 
Staatslexikon. I. 3. Aufl. 
Advokatur. 
  
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forte personis, quae proprias causas ad- 
ministrare non possunt — vel si necessitas 
immineat, pro personis Coniunctis aut misera- 
bilibus (c. 1 et 3 X de postulando 1 37).— 
Überhaupt ging es von dem Prinzip aus, daß die 
Obrigkeit sich der causae viduarum et orpha- 
norum annehmen und den defensionis propriae 
desolatis auxilio et qui suis actibus adesse 
Pro aetatis infirmitate non possunt, für recht- 
lichen Beistand sorgen müsse. Besondere Für- 
sorge ward auch der armen Prozeßpartei ge- 
widmet (s. d. Art. Armenrecht). Hervorzuheben ist 
noch, daß das kanonische Recht zwar noch das 
dominium litis des Prokurators anerkannte, den- 
noch aber im allgemeinen freiere Grundsätze be- 
züglich der Stellvertretung aufstellte: qui facit 
per alium, est perinde ac si faciat per 
ipsum, welche in prozessualischer Beziehung im 
deutschen Recht zur vollständigen Durchführung 
gelangten. 
IV. Bei den Deutschen (vgl. im allg. Maurer, 
Gesch. des altgermanischen öffentl. mündl. Ge- 
richtsverfahrens (18241]; Planck, Das deutsche 
Gerichtsverfahren im Mittelalter 1 (18791, 8 30; 
Nietzsche, De prolocutoribus (18311; insbes. 
Weißler, Gesch. der Rechtsanwaltschaft (19051) 
mußten in der ältesten Zeit die Parteien ihre 
Sache vor Gericht selbst vertreten. Anwälte wer- 
den nirgends erwähnt; dagegen teilt der rö- 
mische Geschichtschreiber Florus mit, daß nach Be- 
siegung des Varus die Wut der Germanen gegen 
die römischen causarum patroni in furchtbarer 
Weise zum Ausbruch gekommen sei. In der mero- 
wingischen und karolingischen Zeit sind Gewalt- 
haber (mandatarl, missi) und Redner (Für- 
sprecher, prolocutores) zu unterscheiden. Letztere 
werden namentlich erwähnt bei den Westgoten 
(welche dieselben nur mit Genehmigung des Rich- 
ters zuließen), bei den Burgundern (welche die 
Vertretung eines Römers durch einen Burgunder 
untersagten) sowie bei den Langobarden (welche 
ohne ausdrückliche richterliche Genehmigung nur 
Witwen und Waisen die Befugnis einräumten, 
einen Fürsprecher anzunehmen). Die Gewalthaber 
kamen häufiger vor; sie traten jedoch nur in Zivil- 
sachen und auch da bloß ausnahmsweise auf, wenn 
die Parteien zu erscheinen verhindert waren. Kirchen 
und Klöster dagegen ließen sich regelmäßig durch 
ihren advocatus als ständigen Beamten vor Ge- 
richt vertreten. Auch in den folgenden Jahrhun- 
derten waren, wie zahlreiche Stellen des Sachsen- 
und Schwabenspiegels zeigen, zu allen Gerichten 
Redner oder Fürsprecher (Vorsprecher) zugelassen, 
welche für den Kläger und den Beklagten, und 
zwar nicht nur in Zivil-, sondern auch in Krimi- 
nalsachen, auftreten konnten. Die Bestellung eines 
solchen Fürsprechers stand zwar im Willen der 
Partei (ein ieglich man mag wolclagen unde 
antwurten one fursprechen); sobald sie aber 
einen solchen angenommen hatte, mußte sie ihm 
allein das Wort überlassen (openbare ne sal die 
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