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welches die Menschen drängt, mit Gott in indi-
viduelle Beziehung zu treten. Über Rousseau hin-
aus erhob sich Constant in seinen geschichtlichen
Studien über die im Lauf der Zeit eingetretenen
„Umbildungen des Empfindens des Ewigen in
der Zeitlichkeit", und anstatt in den religiösen
Einrichtungen der Vorzeit mit Diderot lediglich
systematische Schurkereien der Priester zu finden,
erklärte er diese Einrichtungen als ebenso viele
mehr oder weniger unvollkommene Versuche, dem
„unvergänglichen Instinkt, der uns zum Unend-
lichen hinzieht, mit Lehren, Symbolen, Kulten,
Konfessionen entgegenzukommen, alles nur ver-
gängliche Formen und willkürliche Ausdrucks-
weisen des einen Unvergänglichen, des individuellen
Gefühls, demzufolge der einzelne sich zugehörig
weiß zum Absoluten“. Der vulgären Toleranz,
d. i. dem Indifferentismus, den Lamennais be-
kämpfte, stellte er die philosophische Toleranz ent-
gegen, die in jedem religiösen System einen klei-
n Teil von Wahrheit zu ehren und anzuerkennen
abe.
Wie wenig mit dieser „Religion“ die revo-
lutionäre Religionslosigkeit, der brutale Atheismus
des 18. Jahrh. innerlich überwunden war, liegt
Corpus Evangelicorum
auf der Hand; immerhin muß auf den großen (
formellen Abstand hingewiesen werden, der Con-
stant von den Enzyklopädisten trennt. Sätze wie
die folgenden waren für die revolutionäre Welt
neu, wenn sie auch bei dem Skeptiker Constant,
der sich stellenweise als einen „Ungläubigen“ be-
zeichnet, von problematischer Bedeutung sind.
Das Christentum, sagt er, hat die politische und
die sittliche Freiheit in der Welt eingeführt, denn
„wenn man das Christentum früher so oft hintan-
gesetzt hat, so geschah dies nur, weil man es nicht
verstand. Lucian war unfähig, den Homer zu ver-
stehen, Voltaire hat nie etwas von der Bibel be-
griffen.“ Die Philosophie kann nie die Religion
ersetzen, oder nur auf eine rein theoretische Weise,
weil sie nicht über den Glauben verfügt und nie
volkstümlich werden kann.“ „Der Unglaube hat
keinerlei Vorteil weder für die politische Freiheit
noch für die Menschenrechte; er kann nur abge-
nutzte Institutionen tödlich treffen; sicherer aber
ist, daß er sich gegen das Wiedererstehen aller
jener Einrichtungen erheben wird, welche uns vor
Entartung bewahren würden.“ Mit all diesen
besseren Ideen bleibt indessen die Religion lediglich
inneres Gefühl, der politische und soziale Mensch
wie die Gesellschaft religionslos. Das war und
blieb das einzige, negative Religionsprinzip für
Constant und das liberale Jahrhundert, ein Prin-
zip, aus dem sich die Unversöhnlichkeit des liberalen
Religionshasses und der rücksichtslosen Kirchen-
stürmerei des neuzeitlichen Liberalismus ebenso
erklärt wie das Revolutionsmachen und die Liebe-
dienerei gegen den Polizeistaat aus der liberalen
„Freiheit“. Wenn Faguet, der neueste Biograph
Constants (Revue des Deux Mondes, juin 1888,
634), meint, die Religionsphilosophie Constants
b„ Corpus Catholicorum.
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sei füglich eine Einleitung zum Protestantismus,
so ist dies historisch wie prinzipiell verfehlt; mit
dem positiven Protestantismus hat Constant nichts
gemein. Wir möchten seine Religionsphilosophie
eher als den Epilog zu dessen Auflösung bezeichnen.
Literatur. Außer den erwähnten Schriften
sei hingewiesen aus C.s Cours de politique con-
stitutionnelle (4 Bde, Par. 1817/20; 71872 von
Laboulaye); dazu Louandre, Oeuvres politiques
(ebd. 1875). Eine Sammlüng seiner Discours pro-
noncés à la chambre des députés (3 Bde, Par.
1833; deutsch teilweise von Buß, 1834). Zur Er-
gänzung u. Erläuterung des Werks De la religion
considérée dans sa source, ses formes et ses dé-
veloppements (5 Bde, Par. 1824/30; deutsch von
Peter, 3 Bde, 1824/31) dient die fast vollendete
Studie Du polythéisme romain considéré dans
ses rapports avec la philosophie grecque et la
religion chrétienne (2 Bde, Par. 1833). Außer-
dem sei hingewiesen auf die Mémoires sur les cent-
jours (ebd. 1822 u. 1829), seine Korrespondenz
(ebd. 1844), seine Briefe (1807/30) an Madame
Recamier (ebd. 1881), sein Journal intime (1887),
seinen Roman (Selbstbiographie) Adolphe (ebd.
1816 u. 1890; deutsch 1839). Eine vollständige
Aufzählung seiner Schriften und großen Arbeiten
enthält die Biographie universelle von Michaud
IX), wo (unter Nr 8) der Reihe nach seine
politischen Gelegenheitsschriften notiert find. Neben
den Aufsätzen der Revue des Deux Mondes Jahrg.
1833, 1844 u. 1888 vgl. hinsichtlich seiner Biogra-
phie H. Castille, Portraits politigues Nr 26 (1857);
Blennerhassett, Frau von Stas! II (1887); Sainte-
Beuve, Portraits littéraires (1832 ff) u. Portraits
des femmes (1844); Hillebrand, Gesch. Frank-
reichs (1881); Flathe, Gesch, der Restauration (in
Onckens Geschichte in Einzeldarstellungen).
Weinand.]
Corpus Evangelicorum, Corpus Catho-
licorum. Das Corpus Evangelicorum ist
historisch betrachtet eine Fortsetzung der früheren
protestantischen Bündnisse, aber seinem Wesen
wie Namen nach von denselben verschieden. Die
früheren Verbindungen der Protestanten waren
ohne Ausnahme nur temporär, sie waren nur von
einigen evangelischen Ständen geschlossen worden,
und endlich waren auch auswärtige Mächte in
dieselben ausgenommen worden. Das Corpus
Evangelicorum dagegen war eine bleibende In-
stitution und umfaßte sämtliche protestantischen
Stände des römisch-deutschen Reiches (auswär-
tige Mächte nur insofern, als dieselben Reichs-
lande besaßen). Es verdankt seine Entstehung der
Bestimmung des Westfälischen Friedens, daß in
Religionssachen nicht mehr Stimmenmehrheit ent-
scheiden, sondern ein ius eundi in partes statt-
finden sollte (C. G. Biener, De iure eundi in
partes, Leipz. 1785). Die Protestanten hielten
sich infolge dieser Bestimmung für berechtigt, eine
ständige, kollegialisch gestaltete Vereinigung zu
bilden; indes konnten sie sich anfangs nicht über
die Frage einigen, wer das Direktorium der
neu zu organisierenden „Körperschaft der Evange-
lischen“ (der Name Corpus Evangelicorum war