Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

1151 Corpus Evangelicorum 
zuerst bei Gelegenheit des Heilbronner Bünd- 
nisses von 1633 aufgekommen) führen sollte. 
Kurbrandenburg machte schon damals Anstren- 
gungen, diese wichtige Stellung zu erhalten, indes 
vergebens. Denn am 14. Juni 1653 trugen 
38 evangelische Stände dem Kurfürsten Johann 
Georg I. von Sachsen das Direktorium des 
Corpus Evangelicorum an. Der sachsische 
Kurfürst, der mit dem Kaiser in gutem Ein- 
vernehmen stand, entschloß sich erst nach längerem 
Sträuben, die neue Würde und Bürde zu über- 
nehmen. 
Am 22. Juli 1653 konstituierte sich zu Regens- 
burg das Corpus Evangelicorum unter dem 
Vorsitze Sachsens. Seitdem führte die kursäch- 
sische Gesandtschaft das regelmäßige Direktorium 
des Corpus Evangelicorum, das auch nach be- 
endetem Reichstag versammelt blieb. Gebildet 
wurde die neue Körperschaft durch die Gesandten 
aller evangelischen Reichsstände; dieselben traten 
zu gewöhnlichen und außerordentlichen Konferenzen 
zusammen, in welchen die Schlüsse (conclusa) 
nach Stimmenmehrheit gefaßt wurden. In spä- 
terer Zeit wurden die gewöhnlichen Konferenzen 
alle 14 Tage, an einem Mittwoch, abgehalten. 
Die Gegenstände der Beratungen wurden alsbald 
so ausgedehnt, daß Bülow in seiner Geschichte 
des Corpus Evangelicorum (S. 143) schreiben 
konnte: „Alles, was die gesamten evangelischen 
Reichsstände zu ihrer gemeinschaftlichen Sicherheit 
und zur Erhaltung der ihnen zukommenden reli- 
giösen und politischen Existenz für nötig und dien- 
sam halten, gehört vor das Corpus Evangelico- 
rum.“ Derselbe Schriftsteller gesteht ferner, daß 
auch rein politische Angelegenheiten sehr oft Gegen- 
stand der Beratungen waren. 
Die aggressive Richtung innerhalb des deut- 
schen Protestantismus war zwar sehr bald mit der 
„kaltsinnigen Führung“ des Direktoriums seitens 
Kursachsens unzufrieden; trotzdem blieb das 
Direktorium auch während des 1663 beginnenden 
langen Reichstags ohne erheblichen Widerspruck 
bei Kursachsen. In der Wirklichkeit gestaltete sich 
freilich das Verhältnis anders. Nicht nur, daf 
Kurbrandenburg mehrfach in Vertretung Kur- 
sachsens das Direktorium führte: faktisch stand 
diese Macht, die sich bereits damals zur speziellen 
Vertretung der protestantischen Interessen berufen 
glaubte, an der Spitze des Corpus Evangelico- 
rum. Es hing dies zusammen mit der Verände- 
rung, welche die Körperschaft selbst durchmachte, 
indem dieselbe, ursprünglich mehr zu defensiven 
Zwecken gegründet, alsbald einen sich immer stärker 
ausprägenden offensiven Charakter annahm. So 
wurde das Corpus Evangelicorum in kurzer Zeit 
eine Behörde, welche stets bereit war, alle, wenn 
auch noch so unbegründeten und lächerlichen Be- 
schwerden protestantischer Untertanen gegen ihre 
katholischen Landesherren nicht nur anzunehmen, 
sondern mit großer Beharrlichkeit bis aufs äußerste 
geltend zu machen (vgl. Phillips, Kirchenrecht III, 
  
□ 
ü, Corpus Catholicorum. 
  
1152 
1, 484). Die Eifersucht des Corpus Evangeli- 
corum war so groß, daß es im Jahr 1750 in 
einer an den Kaiser gerichteten Vorstellung ernst- 
lich dagegen protestierte, daß der Reichshofrat sich 
eines evangelischen Predigers annehmen zu dürfen 
geglaubt, den dessen geistliche Obrigkeit wegen 
Übertretung der Kirchenordnung habe bestrafen 
wollen (ogl. K. A. Menzel, Geschichte der Deut- 
schen XI 82). Zu den Religionsbeschwerden, welche 
das Corpus Evangelicorum mit größtem Ernst 
vortrug, gehörte unter anderem auch, daß die Ka- 
tholiken in Simultankirchen während ihres Gottes- 
dienstes den evangelischen Kommuniontisch auf die 
Seite stellten, daß sie ein Kruzifix auf dem Altar 
oder auf der Kanzel anbrachten, daß sie zu ihrem 
Gottesdienst läuteten, daß der Bischof sich von 
seinem Klerus in die Kathedrale einbegleiten lasse, 
daß er den Magistrat „Liebe Getreue“ und nicht 
„Liebe Besondere“ angeredet habe, daß er sein 
Brot durch den Dompfister backen lasse, daß die 
Prozessionen der Katholiken nicht einen geraden, 
sondern krummen Weg nehmen usw. (Vgl. E. W. 
v. Schauroth, Vollständige Sammlung aller Con- 
clusorum, Schreiben u. a. übrigen Verordnungen 
des hochpreislichen Corporis Evangelicorum 
von 1663 bis 1752 13 Bde, Fol., Regensburg 
17521, und deren Fortsetzung von 1753 bis 1786 
von Nik. Aug. Herrich (ebd. 1786..) 
Ernstlich bedroht wurde das kursächsische Direk- 
torium des Corpus Evangelicorum im Jahr 
1697, als der Kurfürst Friedrich August I. 
von Sachsen zum Katholizismus zurückkehrte. Die 
Aufregung in den protestantischen Kreisen war 
damals ungemein groß, allein Friedrich August 
verstand es, dieselbe zu beschwichtigen, indem er 
eine bündige Zusicherung bezüglich der Aufrecht- 
erhaltung der protestantischen Religion in seinem 
Land erteilte und die unmittelbare Ausübung des 
Direktoriums in Regensburg dem Herzog Fried- 
rich II. von Gotha, später dem Herzog Johann 
Georg von Sachsen-Weißenfels übertrug. Daß 
der Kurfürst von Brandenburg damals nicht zugriff, 
sondern eine abwartende Stellung einnahm, hing 
zusammen mit seinen Bestrebungen nach Erwer- 
bung der Königskrone. Friedrich III. war klug 
genug, einzusehen, daß die Nachteile, welche da- 
mals eine Verschärfung der bereits bestehenden 
Spannung mit Kursachsen mit sich gebracht haben 
würde, in keinem Verhältnis standen zu den Vor- 
teilen, welche ihm durch die rechtliche Anerkennung 
der faktisch bereits längst geführten Leitung der 
evangelischen Stände zuteil geworden wäre. Als 
jedoch im Jahr 1717 die Konversion des sächsischen 
Kurprinzen Friedrich August II, bekannt wurde, 
traten Preußen und England bzw. Kur- 
braunschweig entschieden gegen die Fortfüh- 
rung des Direktoriums durch Sachsen auf. Da 
jedoch keine dieser Mächte das Direktorium zu er- 
langen imstande war, einigten sich die beiden Kon- 
kurrenten im Januar 1720 zu einem Vertrag. 
Nach dem Inhalt desselben wollen Kurbranden- 
 
	        
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