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z. B. für Bauten, welche auf Leichtfertigkeit der
Voranschläge oder auf mangelhafte Kontrolle bei
der Ausführung zurückzuführen sind, wird man
zu den unerfreulichen Erscheinungen zählen. Diese
wenigen Anführungen werden genügen, um zu
zeigen, aus wie mannigfachen und verschieden-
artigen finanziellen Einzelerscheinungen das Ge-
samtbild des Staatshaushalts sich zusammensetzt,
und daß die Beantwortung der Frage, ob ein
Defizit überhaupt anzuerkennen, und welche Be-
deutung ihm für die ganze wirtschaftliche Lage
und für die finanzielle Gebarung zuzumessen sei,
sich nicht mit einer Darstellung des Gesamtresul-
tats begnügen darf, sondern eine sehr eingehende
Prüfung aller Einzelursachen voraussetzt.
Es ist eine der wichtigsten Aufgaben jeder
Finanzverwaltung, nicht im Sinn sog. Plus-
macherei, sondern vom höheren staats= und volks-
wirtschaftlichen Standpunkt aus diese Frage zu
prüfen. Dieselbe bildet einen besonders wichtigen
Teil der allgemeinen Frage über die Deckung des
Staatsbedarfs; man wird daher zu vergleichen
haben die Artikel Staatshaushalt, Staatsschulden.
Hier möge nur darauf hingewiesen werden, daß
bei der heutigen Finanzwirtschaft das gewöhn-
liche und jedenfalls nächstliegende Verfahren zur
Deckung eines Defizits in der Aufnahme einer
Anleihe besteht. Ergibt aber die nähere Prüfung,
daß man es mit einem wirklichen Defizit zu tun
hat, daß die auf die fragliche Finanzperiode ent-
fallenden Einnahmen nicht ausreichen, um die der-
selben Periode nach richtigen Grundsätzen zur Last
zu schreibenden Ausgaben zu decken, und ergibt
sich ferner, daß dieser Zustand nicht vorüber-
gehend, sondern dauernd sich zeigt, dann ist es
geboten, durch Eröffnung von neuen Einnahme-
quellen aus den Kräften der Gegenwart das
Gleichgewicht zu suchen, um nicht lediglich auf
die Zukunft die Pflichten der Gegenwart abzu-
wälzen. Wir finden auch in der Finanzgeschichte,
daß man an Stelle oder neben der Anleihe auch
den Verkauf von Staatseigentum treten ließ (vol.
den Art. Domänen); dieses Auskunftsmittel ist
indessen als ein gesundes ebensowenig anzuer-
kennen wie die Massenausgabe von unfundiertem
Papiergeld mit Zwangskurs.
Von den Ansichten einiger Hauptvertreter der
heutigen Finanzwissenschaft mögen über die Frage
des Defizits angeführt werden v. Stein, wel-
cher unterscheidet zwischen finanziellem Defizit
(Mindereinnahmen gegenüber dem Voranschlag),
administrativem Defizit (Steigerung der Aus-
gaben gegenüber dem Voranschlag) und staats-
wirtschaftlichen Defizit (Mißverhältnis zwischen
der gesamten Leistungskraft des Staats und den
Anforderungen an die einzelnen). Wagner und
mit ihm Eheberg unterscheiden: Kassendefizit (Zu-
rückbleiben der Eingänge hinter den Ausgaben)
sowie budgetmäßiges Defizit, wenn schon bei Auf-
stellung des Etats behufs Herstellung des Gleich-
Lgewichts eine Minderung der beabsichtigten Aus-
Staatslexikon. I. 3. Aufl.
Defizit.
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gaben oder eine Erhöhung der vorgesehenen Ein-
nahmen vorgenommen werden muß; ferner De-
fizit im ordentlichen Etat und Defizit im außer-
ordentlichen Etat, eine Unterscheidung, welche zur
Grundlage die Einrichtungen speziell des preußi-
schen Staatshaushalts zu haben scheint, dabei aber
voraussetzt, daß die Einteilung des Etats in die
beiden Hauptgruppen nach ganz korrekten Grund-
sätzen erfolgt. Dann nennt Wagner die plötzliche
Störung des Gleichgewichts im ordentlichen Etat
ein akutes, die durch mehrere Finanzperioden
sich hinziehende Störung ein chronisches Defizit.
Die angeführten Schriftsteller stehen untereinan-
der wegen dieser Einteilung in einer gewissen
Polemik.
Aus den vorstehenden Ausführungen erklärt sich,
wie schwierig es ist, aus lediglich statistischen Zu-
sammenstellungen über die Budgets verschiedener
Staaten und dabei sich ergebende Defizits oder
Überschüsse richtige Folgerungen über die finan-
zielle Lage der in Vergleich gestellten Staatshaus-
halte zu ziehen, wenn man nicht zugleich einen ge-
nauen Einblick in die Entstehung der vorgelegten
Zahlenangaben haben kann.
Schließlich möge noch auf das besondere Ver-
hältnis hingewiesen werden, welches sich für den
Haushalt des Deutschen Reichs in der vor-
liegenden Frage ergibt. Es ist formal ganz rich-
tig zu sagen: Das Reich kennt in seinem Budget
kein Defizit. Werden die für das Reich festgestellten
Ausgaben durch die eigenen Einnahmen nicht ge-
deckt, so wird der Rest durch Umlegung auf die
Einzelstaaten, durch Matrikularbeiträge aufge-
bracht. Zu den Einnahmen des Reichs gehören
indessen auch Anleihen, und sofern diese für Aus-
gabezwecke ausgenommen werden, welche nach rich-
tigen Grundsätzen auf diesem Weg, d. h. also
unter Mitbelastung der Zukunft, aufzubringen
sind, wird die Frage des Defizits gar nicht be-
rührt. Anders könnte man die Lage beurteilen,
wenn durch Anleihen auch solche Ausgaben gedeckt
werden, deren Deckung ihrer ganzen Natur nach
der Gegenwart gebührt; man würde dann von
einem versteckten Defizit sprechen kannen. Wenn
diese Auffassung bei gleichzeitiger ungünstiger Lage
der Haushalte der Einzelstaaten materiell vielleicht
berechtigt wäre, so wäre sie es doch nicht formal,
da durch Verweisung dieser Ausgaben auf die
laufenden Einnahmen nicht ein Defizit zur Er-
scheinung kommen würde, sondern nur eine Er-
höhung der Matrikularbeiträge.
Literatur. Die Werke über Finanzwissen-
chaft berühren sämtlich mehr oder weniger aus-
führlich die Frage des D.s. Man vergleiche also“
die Literatur bei den Art. Besteuerung, Staats-
haushalt. Eingehend ist der Gegenstand behandelt
bei L. v. Stein, Lehrbuch der Finanzwissenschaft 1.
((1885) 243 ff; Wagner, Finanzwissensch. I. TI
(21877), § 51 f 67; außerdem bei Schönberg,
Handbuch der polit. Lkonomie III ( 1898) 754 ff;
K. Th. Eheberg, Finanzwissenschaft ((1907); Leroy-
Beaulieu, Traité de la science des finances II
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