Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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z. B. für Bauten, welche auf Leichtfertigkeit der 
Voranschläge oder auf mangelhafte Kontrolle bei 
der Ausführung zurückzuführen sind, wird man 
zu den unerfreulichen Erscheinungen zählen. Diese 
wenigen Anführungen werden genügen, um zu 
zeigen, aus wie mannigfachen und verschieden- 
artigen finanziellen Einzelerscheinungen das Ge- 
samtbild des Staatshaushalts sich zusammensetzt, 
und daß die Beantwortung der Frage, ob ein 
Defizit überhaupt anzuerkennen, und welche Be- 
deutung ihm für die ganze wirtschaftliche Lage 
und für die finanzielle Gebarung zuzumessen sei, 
sich nicht mit einer Darstellung des Gesamtresul- 
tats begnügen darf, sondern eine sehr eingehende 
Prüfung aller Einzelursachen voraussetzt. 
Es ist eine der wichtigsten Aufgaben jeder 
Finanzverwaltung, nicht im Sinn sog. Plus- 
macherei, sondern vom höheren staats= und volks- 
wirtschaftlichen Standpunkt aus diese Frage zu 
prüfen. Dieselbe bildet einen besonders wichtigen 
Teil der allgemeinen Frage über die Deckung des 
Staatsbedarfs; man wird daher zu vergleichen 
haben die Artikel Staatshaushalt, Staatsschulden. 
Hier möge nur darauf hingewiesen werden, daß 
bei der heutigen Finanzwirtschaft das gewöhn- 
liche und jedenfalls nächstliegende Verfahren zur 
Deckung eines Defizits in der Aufnahme einer 
Anleihe besteht. Ergibt aber die nähere Prüfung, 
daß man es mit einem wirklichen Defizit zu tun 
hat, daß die auf die fragliche Finanzperiode ent- 
fallenden Einnahmen nicht ausreichen, um die der- 
selben Periode nach richtigen Grundsätzen zur Last 
zu schreibenden Ausgaben zu decken, und ergibt 
sich ferner, daß dieser Zustand nicht vorüber- 
gehend, sondern dauernd sich zeigt, dann ist es 
geboten, durch Eröffnung von neuen Einnahme- 
quellen aus den Kräften der Gegenwart das 
Gleichgewicht zu suchen, um nicht lediglich auf 
die Zukunft die Pflichten der Gegenwart abzu- 
wälzen. Wir finden auch in der Finanzgeschichte, 
daß man an Stelle oder neben der Anleihe auch 
den Verkauf von Staatseigentum treten ließ (vol. 
den Art. Domänen); dieses Auskunftsmittel ist 
indessen als ein gesundes ebensowenig anzuer- 
kennen wie die Massenausgabe von unfundiertem 
Papiergeld mit Zwangskurs. 
Von den Ansichten einiger Hauptvertreter der 
heutigen Finanzwissenschaft mögen über die Frage 
des Defizits angeführt werden v. Stein, wel- 
cher unterscheidet zwischen finanziellem Defizit 
(Mindereinnahmen gegenüber dem Voranschlag), 
administrativem Defizit (Steigerung der Aus- 
gaben gegenüber dem Voranschlag) und staats- 
wirtschaftlichen Defizit (Mißverhältnis zwischen 
der gesamten Leistungskraft des Staats und den 
Anforderungen an die einzelnen). Wagner und 
mit ihm Eheberg unterscheiden: Kassendefizit (Zu- 
rückbleiben der Eingänge hinter den Ausgaben) 
sowie budgetmäßiges Defizit, wenn schon bei Auf- 
stellung des Etats behufs Herstellung des Gleich- 
Lgewichts eine Minderung der beabsichtigten Aus- 
Staatslexikon. I. 3. Aufl. 
  
Defizit. 
  
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gaben oder eine Erhöhung der vorgesehenen Ein- 
nahmen vorgenommen werden muß; ferner De- 
fizit im ordentlichen Etat und Defizit im außer- 
ordentlichen Etat, eine Unterscheidung, welche zur 
Grundlage die Einrichtungen speziell des preußi- 
schen Staatshaushalts zu haben scheint, dabei aber 
voraussetzt, daß die Einteilung des Etats in die 
beiden Hauptgruppen nach ganz korrekten Grund- 
sätzen erfolgt. Dann nennt Wagner die plötzliche 
Störung des Gleichgewichts im ordentlichen Etat 
ein akutes, die durch mehrere Finanzperioden 
sich hinziehende Störung ein chronisches Defizit. 
Die angeführten Schriftsteller stehen untereinan- 
der wegen dieser Einteilung in einer gewissen 
Polemik. 
Aus den vorstehenden Ausführungen erklärt sich, 
wie schwierig es ist, aus lediglich statistischen Zu- 
sammenstellungen über die Budgets verschiedener 
Staaten und dabei sich ergebende Defizits oder 
Überschüsse richtige Folgerungen über die finan- 
zielle Lage der in Vergleich gestellten Staatshaus- 
halte zu ziehen, wenn man nicht zugleich einen ge- 
nauen Einblick in die Entstehung der vorgelegten 
Zahlenangaben haben kann. 
Schließlich möge noch auf das besondere Ver- 
hältnis hingewiesen werden, welches sich für den 
Haushalt des Deutschen Reichs in der vor- 
liegenden Frage ergibt. Es ist formal ganz rich- 
tig zu sagen: Das Reich kennt in seinem Budget 
kein Defizit. Werden die für das Reich festgestellten 
Ausgaben durch die eigenen Einnahmen nicht ge- 
deckt, so wird der Rest durch Umlegung auf die 
Einzelstaaten, durch Matrikularbeiträge aufge- 
bracht. Zu den Einnahmen des Reichs gehören 
indessen auch Anleihen, und sofern diese für Aus- 
gabezwecke ausgenommen werden, welche nach rich- 
tigen Grundsätzen auf diesem Weg, d. h. also 
unter Mitbelastung der Zukunft, aufzubringen 
sind, wird die Frage des Defizits gar nicht be- 
rührt. Anders könnte man die Lage beurteilen, 
wenn durch Anleihen auch solche Ausgaben gedeckt 
werden, deren Deckung ihrer ganzen Natur nach 
der Gegenwart gebührt; man würde dann von 
einem versteckten Defizit sprechen kannen. Wenn 
diese Auffassung bei gleichzeitiger ungünstiger Lage 
der Haushalte der Einzelstaaten materiell vielleicht 
berechtigt wäre, so wäre sie es doch nicht formal, 
da durch Verweisung dieser Ausgaben auf die 
laufenden Einnahmen nicht ein Defizit zur Er- 
scheinung kommen würde, sondern nur eine Er- 
höhung der Matrikularbeiträge. 
Literatur. Die Werke über Finanzwissen- 
chaft berühren sämtlich mehr oder weniger aus- 
führlich die Frage des D.s. Man vergleiche also“ 
die Literatur bei den Art. Besteuerung, Staats- 
haushalt. Eingehend ist der Gegenstand behandelt 
bei L. v. Stein, Lehrbuch der Finanzwissenschaft 1. 
((1885) 243 ff; Wagner, Finanzwissensch. I. TI 
(21877), § 51 f 67; außerdem bei Schönberg, 
Handbuch der polit. Lkonomie III ( 1898) 754 ff; 
K. Th. Eheberg, Finanzwissenschaft ((1907); Leroy- 
Beaulieu, Traité de la science des finances II 
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