1187
(71907; Kritik der Behandlung des französischen
Budgets im Vergleich mit dem englischen).
lv. Huene, rev. Red.]
Demokratie. 1. Begriff und Berechti-
gung der demokratischen Staatsform. Der Name
Demokratie bedeutet seit den Zeiten des griechischen
Altertums die Herrschaft der Vielen, der Menge,
des Volks im Gegensatz zu Aristokratie (s. o. Sp.
358 f) und Monarchie, der Herrschaft einer Min-
derzahl von Bevorzugten und der eines einzigen.
Von Anfang an aber war, was diese Formen
staatlichen Gemeinlebens voneinander schied, kein
bloßer Unterschied der Zahl. Unter dem De-
mos verstand man nicht die gesamte Bevölke-
rung und auch nicht die sämtlichen männlichen
Bewohner eines Landes, sondern eine bestimmte
Klasse, allerdings die zahlreichste, die aber nach
beiden Seiten scharf abgegrenzt war: nach unten
gegen die unfreien Arbeiter, die Sklaven, nach
oben gegen eine wirtschaftlich und politisch höher
stehende Minderheit. Ob diese letztere Scheidung
lediglich in der wirtschaftlichen Ungleichheit ihren
Ursprung hatte und sich erst allmählich zu einem
Klassenunterschied verfestigte, oder ob ihr eine
Stammesverschiedenheit, der Gegensatz des er-
obernden und des unterworfenen Volks, zugrunde
lag, gilt dabei gleich. Aristoteles, der die Demo-
kratie zu den verfehlten Verfassungen zählt, sieht
das entscheidende Merkmal darin, daß in ihr die
Vermögenslosen herrschen (s. o. Sp. 378). Man
versteht daher auch, warum die Schriftsteller des
Altertums der Regel nach dieser Staatsform mehr
oder minder abgeneigt gegenüberstehen. Sie sehen
darin nicht die Verwirklichung eines allen in
gleicher Weise zustehenden Anspruchs, sondern die
Herrschaft des großen Haufens über diejenigen,
denen wegen ihres größeren Besitzes und der
höheren Bildung nach Herkommen und Recht die
Regierung zukommen sollte. — In einer zwei-
fachen Richtung weicht die moderne Auffassung
von der antiken ab: einmal, sofern sie bei dem
Namen Demokratie allerdings an die völlige
Gleichberechtigung aller denkt oder wenigstens aller
erwachsenen männlichen Bewohner, und sodann,
sofern sie den Staatszwang auf das geringste Maß
einzuschränken und der individuellen Freiheit einen
möglichst großen Spielraum zu wahren bestrebt
ist. Die letztere Tendenz fehlt ganz allgemein im
antiken Staatsleben; der Streit der Parteien
dreht sich niemals darum, wie weit die Kompetenz
der öffentlichen Gewalt gehen dürfe, sondern wem
die Handhabung dieser Gewalt zustehe. Die Be-
rechtigung einer demokratischen Klassenherrschaft
zurückzuweisen, konnte daher den Vertretern der
politischen Theorie im Altertum nicht schwer wer-
den. In der modernen Welt dagegen hat die
Volksherrschaft auf dem Grund allgemeiner Frei-
heit und Gleichheit nicht nur in viel weiterem Um-
fang als je im Altertum Verwirklichung gefunden,
sondern sie ist auch in der Theorie als vollkom-
menste und allein der Vernunft entsprechende Re-
Demokratie.
1188
gierungsform hingestellt worden. Einer solchen
übertriebenen Wertschätzung begegnen freilich auch
von der andern Seite ebenso übertriebene Ver-
werfungsurteile, so daß eine prinzipielle Erörte=
rung, welche das Verhältnis der Demokratie zu
den letzten Grundlagen des staatlichen Lebens ins
Auge faßt, nicht umgangen werden kann.
R. v. Mohl bringt die Zulässigkeit der Volks-
herrschaft, d. h. der Besorgung der staatlichen An-
gelegenheiten durch die Bürger selbst, in Zusam-
menhang mit der für die Idee des Rechtsstaats
maßgebenden rationalistischen Lebensauffassung,
welche keine höhere, vom Willen des einzelnen
Menschen unabhängige Macht als Grundlage des
Staats annimmt. Dies ist nicht nur durchaus
irrig, sondern es verschiebt von vornherein den
Standpunkt und verschieft das Urteil. Jene ex-
tremen Anhänger des Königtums von Gottes
Gnaden würden dadurch recht bekommen, welche
in der Demokratie nicht so sehr eine besondere
Staatsform als den Gipfel der Gottlosigkeit und
die Frucht revolutionärer Erhebung erblicken. In
Wahrheit kann die Demokratie so wenig wie irgend
eine andere Form des Staatslebens von einer
höheren, den Willen des einzelnen bindenden
Macht absehen. Dafß dieselbe in einer Monarchie
für das Bewußtsein der Staatsbürger deutlicher
hervortritt, liegt in der Natur der Sache. Trotz-
dem hat eine geläuterte Denkweise längst über die
Vorstellung hinausgeführt, welche jene Macht
über die Willen der einzelnen im Sinn eines Ver-
hältnisses persönlicher Herrschaft und Dienstbar-
keit verstand. Der letzte Grund für die Verpflich-
tung der Bürger, sich den Anordnungen des Mon-
archen zu unterwerfen, liegt in dem Gebot des
Sittengesetzes, für den Bestand der staatlichen
Ordnung einzutreten. Denn der Staat gehört zu
den in der sittlichen Ordnung begründeten Mensch-
heitszwecken; er soll sein, und der einzelne hat die
Pflicht, diesem höheren Zweck, den er vorfindet,
den er sich nicht selbst gesetzt hat, sich zu unter-
werfen. Nur eine Folge aus jenem ersten Gebot
und aus ihm allein zu begründen ist das andere,
der jeweiligen Obrigkeit im Staat unterworfen
zu sein. Die Gestalt und Beschaffenheit dieser
letzteren ist im eingerichteten Staat Sache des ge-
schichtlichen Rechts, in dem neu zu begründenden
Sache der Zweckmäßigkeit. Auch im demokratischen
Staat ist es sittliche Pflicht der Bürger, sich den
Gesetzen des Staats und den Anordnungen der
Obrigkeit innerhalb ihrer Zuständigkeit zu unter-
werfen. So ist die höhere Macht, welche die
Willen der einzelnen bindet, überall der Staats-
zweck als ein Seinsollendes. Wenn die Person
des Staatsoberhaupts in der erblichen Monarchie
mit größerem Glanz umgeben zu sein pflegt als
die Magistrate einer demokratischen Republik, und
wenn die Bürger in althergebrachter Ehrfurcht
zum Thron aufblicken, während sie = den er-
wählten Beamten und wechselnden Vestehern nur
ihresgleichen erkennen, so ist dieser Unterschied,