Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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gemessen an der sittlichen Pflicht des bürgerlichen 
Gehorsams, doch nur sekundärer Art. Kein Staat 
kann ohne die fundamentale Gliederung in Re- 
gierende und Regierte bestehen und ohne die 
Unterordnung der letzteren unter die ersteren. Aber 
daraus folgt nicht, daß nicht abwechselnd die 
Untertanen auch Obrigkeit sein könnten, und daß, 
wer Obrigkeit ist, dies immer bleiben müsse und 
niemals Untertan werden könne. Wenn der 
Royalist der alten Zeit in seinem König den sicht- 
baren Stellvertreter Gottes auf Erden zu erblicken 
geneigt war, so kann ein gesteigertes religiöses 
Empfinden auch einen Freistaat in einen höheren 
Zusammenhang einordnen und dadurch den In- 
stitutionen desselben einen geheiligten Charakter 
verleihen. Dann erscheint Gott allein als der 
Herr und Gebieter; in seinem Namen verwalten 
die erwählten Vorsteher das Gemeinwesen, wenn 
die Reihe sie trifft. Nur eine kurzsichtige Betrach- 
tung denkt bei der Demokratie ausschließlich an 
die Fälle, wo unter den Eingebungen eines revo- 
lutionären Geistes ein Volk sich gegen die recht- 
mäßige Obrigkeit erhebt und sich allein für sou- 
verän erklärt; weit lehrreicher für das Wesen 
dieser Staatsform sind die andern Fälle, wo, wie 
in der Begründung von Kolonien, von Anfang 
an der gemeinsame Zweck die gleichgestellten Bürger 
miteinander verband. Wo die Monarchie zu Recht 
besteht, ist es niemand gestattet, für die Verwirk- 
lichung der demokratischen Staatsform tätig zu 
sein; aber es ist töricht, da, wo es sich nur um die 
politische Theorie handelt, in der Wertschätzung 
derselben die Voreingenommenheit des Partei- 
gängers oder auch des Höflings walten zu lassen. 
Sieht man von der Frage des geschichtlichen 
Rechts ab, so können für eine wissenschaftliche 
Würdigung lediglich Erwägungen der Zweck- 
mäßigkeit Platz greifen. Die Frage ist allein die, 
ob und unter welchen Voraussetzungen sich die 
Aufgaben des staatlichen Lebens in einer demo- 
kratischen Staatsform in befriedigender Weise 
lösen lassen. 
2. Arten der Demokratie. Zur Beantwor- 
tung dieser Frage ist zunächst erforderlich, zwischen 
den beiden Arten der unmittelbaren und der 
repräsentativen Demokratie zu unterscheiden. 
Die Staaten des Altertums kannten nur die un- 
mittelbare Demokratie. Der Gedanke der poli- 
tischen Stellvertretung war ihnen vollkommen 
fremd. Das Volk, d. h. die Gesamtheit der stimm- 
berechtigten Bürger, gilt nicht nur als der oberste 
Träger der Gewalt, sondern übt dieselbe auch tat- 
sächlich aus. Als der konsequenteste Ausdruck der 
antiken Demokratie läßt sich die Verfassung Athens 
ansehen. Fast alle wichtigeren Staatsangelegen- 
heiten wurden in der Volksversammlung behan- 
delt, in welcher jeder ehrbare athenische Bürger 
nach zurückgelegtem 20. Lebensjahr Sitz und 
Stimme hatte. Von einer scharfen Scheidung 
zwischen Gesetzgebung und Exekutive in unserem 
Sinn war nicht die Rede. Für die erstere wurde 
Demokratie. 
  
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in jedem einzelnen Fall ein zahlreicher Ausschuß 
gewählt, die sog. Nomotheten, auf deren Beschlüsse 
die Stimmung der Volksversammlung zumeist 
einen übermächtigen Einfluß ausübte; gerade die 
eigentlichen Regierungsgeschäfte aber besorgte diese 
selbst. „Sie selber hörte die Gesandten anderer 
Staaten an, ernannte Gesandte, beriet und be- 
stimmte die Instruktionen derselben. Sie beschloß 
Krieg oder Frieden, erwählte die Feldherren, regelte 
den Sold und sogar die Art der Kriegsführung. 
Das Schicksal der eroberten Städte und Länder 
wurde von ihr normiert. Sie verfügte über die 
Aufnahme und Anerkennung neuer Götter, über 
die religiösen Feste, über neue Priestertümer. Sie 
erteilte Bürgerrechte und Privilegien. Über den 
Zustand der Finanzen, der Einnahmen und Aus- 
gaben der Republik, mußte ihr Rechenschaft ab- 
gelegt werden. Von ihr wurden die Steuern auf- 
erlegt, die Schirmgelder der Metöken bestimmt, 
das Münzwesen geordnet, zu freiwilligen Bei- 
trägen aufgefordert. Die Bauten der Tempel und 
öffentlichen Gebäude, der Straßen, Mauern usw., 
sowie die wichtigen Ausgaben für den Schiffsbau 
bedurften ihrer Genehmigung, und die wesentlichen 
Aufträge dafür gab sie selber. Sie verwendete 
die Staatsgelder auch zum Privatvergnügen der 
einzelnen Bürger, indem sie diesen den Besuch der 
Theater bezahlen ließ. Die regelmäßige Straf- 
gerichtsbarkeit war der Volksversammlung zwar 
entzogen, aber in außerordentlichen Fällen, ins- 
besondere wo das Gesetz ein Verbrechen nicht vor- 
gesehen hatte oder erschwerende Umstände außer- 
gewöhnliche Maßregeln zu rechtfertigen schienen, 
wurden auch Kriminalklagen vor derselben ver- 
handelt und die Strafe von ihr bestimmt, oft auch 
das Schuldig ausgesprochen“ (Bluntschli). Die 
Voraussetzung für eine solche Verfassung bildet 
ein räumlich eng begrenztes Gemeinwesen. Sie 
war möglich in den Stadtstaaten des griechischen 
Altertums, sie ist unmöglich in den ausgedehnten 
Territorialstaaten der Neuzeit. Es mußte ferner 
nicht nur durch die geringe Ausdehnung des Ge- 
biets und die relativ kleine Zahl der Bürger mög- 
lich sein, das herrschende Volk zur Versammlung 
zu vereinigen, die Bürger mußten auch hinrei- 
chende Muße zur Besorgung der Staatsgeschäfte 
haben. Dies erforderte entweder eine große Ein- 
fachheit und Gleichförmigkeit aller Verhältnisse, 
der wirtschaftlichen wie der politischen, oder es 
mußte, wie dies in allen Staaten des Altertums 
der Fall war, die wirtschaftliche Arbeit von 
Sklaven besorgt werden. — Daß nun eine solche 
Berufung der Bürger zu unmittelbarer Beteili- 
gung an den Staatsgeschäften Bildung und 
Selbstgefühl in allen gleichmäßig fördern mußte, 
daß sie geeignet war, den Patriotismus und die 
zu Opfern bereite Hingabe an die gemeinsame 
Sache zu erwecken und zu steigern, ist einleuchtend 
und wird durch die Tatsachen der Geschichte be- 
stätigt. Ganz ebenso aber drängen sich die Mängel 
und Gefahren auf, welche mit dieser Einrichtung 
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