Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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unabtrennbar verbunden find. Wenn sie die in- 
tellektuelle Ausbildung ihrer Mitglieder beförderte, 
so war zugleich ein außerordentlicher Grad mora- 
lischer Tüchtigkeit die unerläßliche Bedingung 
ihres gedeihlichen Bestands. Das souveräne 
Volk hat keine höhere Gewalt über sich, die es zur 
Rechenschaft ziehen könnte; um so fester muß es 
sich selbst an das Recht binden und um so mehr 
die bestehenden Gesetze heilig halten. Hier liegt 
die Klippe, an der Athen scheiterte. Die ältere 
Solonische Verfassung enthielt Einrichtungen, 
welche dazu bestimmt waren, der Willkürmacht 
der Volksversammlung Schranken zu setzen. 
Dieselben wurden mehr und mehr als drückende 
Fesseln empfunden und abgeworfen. Was Ari- 
stoteles in der Politik (4, 4, 1292 a, öff) 
als den äußersten Grad der Entartung einer 
demokratischen Verfassung bezeichnet, daß Volks- 
beschlüsse über die Gesetze gestellt werden, trat in 
Athen tatsächlich ein. Wo aber der Beschluß einer 
vielköpfigen Versammlung die letzte Instanz bildet, 
da hat in Wahrheit der die Macht in Händen, 
welcher die bewegliche Menge nach seinem Willen 
zu lenken weiß. Athen feierte seine höchste Blüte, 
als der demokratische Freistaat tatsächlich unter der 
Herrschaft des Perikles stand. Der unvergleich- 
liche Wert des Mannes beruhte darin, daß er mit 
der Macht, die er über das Volk ausübte, wahrhaft 
staatsmännische Einsicht und Besonnenheit ver- 
band. Solch glückliches Zusammentreffen wird 
immer die Ausnahme bilden, weit häufiger das 
von Aristoteles gekennzeichnete Schauspiel ein- 
treten, daß das Volk, von ehrgeizigen Demagogen 
geleitet wie ein Tyrann von seinen Höflingen, zum 
vielköpfigen Despoten wird, in dessen Allmacht 
jede verfassungsmäßige Ordnung sich auflöst. Weil 
jede Uberlegenheit des einzelnen sofort das Miß- 
trauen der eifersüchtigen Menge wachruft, werden 
auch wichtigere Staatsämter nicht durch die Wahl 
der Tüchtigen, sondern durchs Los vergeben. Der 
Erfolg ist nicht nur der, gegen welchen die bekannte 
Polemik des Sokrates sich richtete, daß die Füh- 
rung der öffentlichen Angelegenheiten möglicher- 
weise in die Hände von völlig Unfähigen gelegt 
wird, sondern ganz allgemein die geringe Autorität, 
welche jederzeit solchen durchs Los berufenen Be- 
amten zur Seite steht. So wird der Gesetzgebung 
jede Stetigkeit, der Verwaltung jede zielbewußte 
Energie und der öffentlichen Gewalt selbst auf die 
Dauer jedes Ansehen genommen. 
Im 18. Jahrh. hat Rousseau die unmittel- 
bare Demokratie als Staatsideal hingestellt; 
auch hat sich dieselbe in einigen kleineren Kan- 
tonen der Schweiz erhalten (Uri, Unterwalden 
ob dem Wald und nid dem Wald, Glarus, 
Appenzell Außer-Rhoden und Inner--Rhoden), 
wo das Volk in der Landsgemeinde direkt seinen 
Willen kundgibt, Gesetze annimmt oder verwirft 
und Wahlen vornimmt. Aber die moderne Ent- 
wicklung führt nirgendwo mehr darauf hin, viel- 
mehr bildet die Regel und das allgemeine Ziel 
Demokratie. 
  
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der demokratischen Bewegung in der Neuzeit die 
Repräsentativ-Demokratie. Ihre Ausbil- 
dung hat dieselbe in Nordamerika gefunden. 
Die Verhältnisse und Anschauungen, welche ur- 
sprünglich nur in den nördlichen Kolonien, dem 
sog. Neu-England, bestanden, gaben das Vorbild 
ab, welches allmählich auch für alle übrigen be- 
stimmend wurde. Dort gehörten die Ansiedler 
sämtlich dem Mittelstand und dem puritanischen 
Bekenntnis an. Ihre Anschauungen fanden einen 
charakteristischen Ausdruck in der berühmten Ur- 
kunde jener Pilger, welche sich in Plymouth nieder- 
ließen. In der am 11. Nov. 1620 von allen unter- 
zeichneten Urkunde erklären sie vor dem Angesicht 
Gottes, daß sie sich zu einem bürgerlichen Körper 
vereinigen, um gute Ordnung zu halten, gerechte 
und billige Gesetze zu erlassen und solche Ein- 
richtungen zu treffen, welche der gemeinen Wohl- 
fahrt zum Nutzen gereichen. Deutlich tritt darin 
der Zweck des Staates als das Höhere hervor, 
dem sie sich unterwerfen. Die Grundlage des 
neuen Gemeinwesens bildete die vollkommene 
Gleichberechtigung aller Glieder bei freiem Grund- 
eigentum. Jede Erinnerung an ständische Glie- 
derung und bevorrechtete Stellung einzelner hatten 
sie in der alten Heimat zurückgelassen; das Erbteil 
des angelsächsischen Charakters, den Sinn für 
Selbstverwaltung und gesetzliche Freiheit hatten 
sie mit herübergenommen. Ihm gab der tägliche 
Kampf um die Grundlage der wirtschaftlichen 
Existenz, den die Pflanzer mit Klima und Boden 
und den Eingebornen des Landes zu kämpfen 
hatten, die kräftigste Nahrung. Durch die Ver- 
breitung allgemeiner Volksbildung wurde er mit 
Bewußtsein gefördert. Der Beamten waren wenige 
und ihre Amtsdauer kurz bemessen; dem Governor 
waren beisitzende Räte, den Richtern Geschworne 
beigegeben. Von Anfang an bestanden Vertre- 
tungskörper zur Feststellung der Landesgesetze, Be- 
willigung der Landessteuern, Kontrolle der Landes- 
regierung. Die englische Oberherrschaft wurde 
kaum empfunden; die Freistaaten waren fertig, 
noch ehe die Unabhängigkeitserklärung von 1776 
sie ausdrücklich dazu erhob. In den Vasallen- 
staaten des Südens, welche enger mit dem Mutter- 
land zusammenhingen, war manches anders. Mit- 
glieder der Aristokratie hatten in Virginien aus- 
gedehnte Besitzungen, die Hierarchie der Hochkirche 
war mit ihnen eingezogen, und auch minderwertige 
Elemente waren aus der Heimat frühzeitig hierhin 
abgegeben worden. Der Versuch einer Verfassung 
mit strenger Scheidung der Stände schlug trotzdem 
auch hier fehl; der demokratische Geist drang von 
Norden her langsam aber siegreich durch. Bei 
solcher Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten 
in den einzelnen Ländern war es selbstverständlich, 
daß die Unionsverfassung von 1787 keinen andern 
Charakter annahm. Den Einzelstaaten die Selb- 
ständigkeit eigenen innern Lebens belassend, fügte 
sie dieselben zugleich zu einem großen demokrati- 
schen Gemeinwesen zusammen.
	        
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