Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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die Republik; in dieser Wahl wurden Millionen 
Dollars zur Korrumpierung der Wahl von den 
reichen Monopolisten beigesteuert und verwendet, 
um aus dem Resultat der Wahl die Dividenden 
zu schneiden. Der amerikanische Journalist und 
Humorist Donn Piatt ging in seiner satirischen 
Kritik über die Korruption bei den letzten Wahlen 
vielleicht zu weit, indem er erklärte, daß an dem 
Wagen des neugewählten Präsidenten, wenn er 
zu seiner Einsetzung am 4. März d. J. nach dem 
Kapitol fahre, in großen goldenen Buchstaben 
gedruckt zu lesen sein sollte: „Gekauft für zwei 
Millionen Dollars.“ Allein wenn diese Erklärung 
auch zu grell ist, so hat doch unbestritten in beiden 
herrschenden politischen Parteien eine furchtbare 
Wahlkorruption stattgefunden. Das Geld ist hier 
die herrschende Macht. Die herrschenden politischen 
Parteien stehen unter der industriellen Geldmacht 
des Landes.“ Daß in der Gegenwart diese Schil- 
derung keinerlei Berechtigung mehr habe, wird 
schwerlich behauptet werden. — Der doppelte, 
ungeheure Schaden derartiger Verhältnisse springt 
in die Augen. Die moralische Autorität der staat- 
lichen Obrigkeit wird völlig vernichtet; es bleiben 
nur physische Gewalt und materieller Einfluß, 
diese aber weit weniger ein Gegenstand der Furcht 
als ein mit allen Mitteln anzustrebendes Ziel. 
Und die Staatsgewalt, welche im Dienste aller 
stehen und allein für die Verwirklichung des all- 
gemeinen Staatszwecks tätig sein soll, verfällt dem 
überwiegenden Einfluß einer Gesellschaftsklasse, 
welche dieselbe ihrem einseitigen Interesse nutzbar 
zu machen bestrebt ist. Sehr nahe an die Kor- 
ruption heranreichend und auf alle Fälle höchst 
bedenklich ist auch die Einrichtung, daß der neu- 
gewählte Präsident in weitem Umfang die Be- 
amtenstellen neu besetzt, selbstverständlich mit seinen 
Anhängern und oft genug für geleistete Dienste 
oder zur Befriedigung geltend gemachter Ansprüche 
— nach dem berüchtigten Motto: „Den Siegern 
die Beute.“ 7 
Daß nun diese und die zuvor erwähnten übel- 
stände nicht notwendig mit dem Wesen der Demo- 
kratie verbunden sind, ist gewiß. In der Schweiz 
sind sie ohne Frage bisher weit weniger, teilweise 
auch gar nicht hervorgetreten. Die Kleinheit des 
Landes, die Beschaffenheit einzelner seiner Teile, 
vielleicht das relativ stärker entwickelte politische 
Leben in den Gliederstaaten, aber auch die Sitten 
und der Charakter der Bewohner und die jahr- 
hundertealte Gewöhnung an republikanische For- 
men sind hier ohne Frage von heilsamem und 
förderndem Einfluß gewesen. Als allgemeines 
Gegenmittel gegen jene Schäden, wo sie hervor- 
treten oder zu befürchten sind, empfehlen die Lob- 
redner der Demokratie die Verbreitung von Bil- 
dung und patriotischer, pflichttreuer Gesinnung. 
Bekanntlich läßt sich die letztere weit weniger leicht 
beschaffen als die erstere, und doch ist es in der 
Tat die moralische Tüchtigkeit der Bürger, an 
welche die moderne Repräsentativ -Demokratie 
Demokratie. 
  
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ganz ebenso wie die unmittelbare Demokratie des 
Altertums erhöhte Anforderungen stellt. Montes- 
quien hatte recht, wenn er als das Lebensprinzip 
der Volksherrschaft die Tugend bezeichnete. Eine 
Verfassung mag noch so weise ausgedacht, die Zu- 
ständigkeit der einzelnen Gewalten möge aufs ge- 
naueste fixiert, jede Gefahr eines Konflikts in 
vorschauender Umsicht vermieden, es mögen die 
denkbar besten Garantien gegen jedwede Vergewal- 
tigung der individuellen Freiheit und jede Erschüt- 
terung der staatlichen Grundlagen gegeben sein: die 
Hauptsache bleibt doch, daß in der Mehrheit der 
feste Wille lebendig ist, jene Bestimmungen in der 
Tat zu achten und die souveräne Macht niemals 
anders als in den herkömmlichen verfassungs- 
mäßigen Formen auszuüben. Man wird ein- 
wenden, daß dies ganz allgemein von jedem po- 
litischen Gemeinwesen gelte, daß die geschilderten 
Mißstände, zum Teil wenigstens, auch in andern 
Staatsformen aufzutreten pflegten oder in diesen 
durch andere, nicht minder bedenkliche ersetzt wür- 
den, daß insbesondere die Korruption auch in 
monarchischen Staaten oft genug und bis in die 
Gegenwart hinein ihre Orgien gefeiert habe. Die 
Tatsachen sollen nicht bestritten werden; trotzdem 
bleibt bestehen, daß die Gefahr jener Mißstände 
in demokratischen Republiken näherliegend und daß 
sie größer ist. Der entscheidende Vorzug des erb- 
lichen Königtums beruht darin, daß in ihm die 
höchste Stelle dem Wettkampf der politischen Par- 
teien und dem Gegensatz der Klasseninteressen ein 
für allemal entzogen ist. Es gibt keine Partei- 
kandidaten für die Königswürde, wie es solche für 
die Präsidentschaft gibt. Keiner kann zu jener 
Stelle gelangen, den nicht das Geburtsrecht dazu 
beruft, und hätte er auch alle erdenkbaren persön- 
lichen Vorzüge, höbe ihn die Volksgunst bis zum 
Himmel, ständen ihm alle Schätze Kaliforniens zur 
Verfügung. Und dem erblichen Monarchen, der 
nicht aus einer der Gesellschaftsklassen hervorgeht, 
der keine politische Partei zu vertreten hat, der 
niemand für seine Erhebung zu Dank verpflichtet 
ist, steht von OHaus aus eine viel höhere Autorität 
zur Seite; er ist weit besser als je ein demokrati- 
scher Präsident dazu befähigt, leitend und aus- 
gleichend in dem Widerspiel der Interessen tätig 
zu sein. Nicht dem Willen des Volkes oder dem, 
was sich als solcher ausgibt, sondern dem Zweck 
des Staats entnimmt er die oberste Norm für 
seine Regierung. 
Es ist eine seit Tocquevilles Buch über die 
amerikanische Demokratie oft wiederholte, nament- 
lich von französischen Publizisten nachgesprochene 
Behauptung, daß der demokratischen Staatsform 
die Zukunft gehöre und ihrem unaufhaltsamen 
Vordringen die alten monarchischen Staatswesen 
würden weichen müssen. Aber man übersieht bei 
jener Prophezeiung einen Umstand, der freilich erst 
nach Tocquevilles Zeit in ganzer Deutlichkeit 
hervorgetreten ist. Der älteren bürgerlichen Demo- 
kratie ist ein gefährlicher Rivale erwachsen in der
	        
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