Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Sozialdemokratie, um so gefährlicher, als 
er sich rühmt, die Konsequenzen aus dem demo- 
kratischen Prinzip erst vollständig zu ziehen und 
den berechtigten Interessen der großen Massen 
endlich eine wirkliche Befriedigung zu bringen. 
Darum heißt die Alternative heute nicht so sehr: 
Monarchie oder demokratische Republik, als viel- 
mehr: Aufrechterhaltung der bestehenden Gesell- 
schaftsordnung oder sozialistische Umgestaltung, 
und es ist kein Zweifel, daß die erstere in dem 
festen Gefüge des monarchischen Staates eine weit 
festere Stütze findet als in einer demokratischen 
Republik. 
Man kann unabhängig von der Demokratie als 
Staatsform von demokratischen Ideen, Tendenzen 
und Einrichtungen sprechen. Dieselben kommen 
sämtlich darin überein, daß in ihnen die bürger- 
liche Gleichheit nachdrücklich zur Geltung gelangt. 
Vieles davon ist heute in den meisten zivilisierten 
Staaten tatsächlich durchgeführt: Gleichheit vor 
dem Gesetz, allgemeine Wehrpflicht, allgemeiner 
Schulzwang, politische Gleichberechtigung — in 
den Ländern des allgemeinen Stimmrechts ist das 
Wahlrecht der männlichen Bevölkerung nur an 
die Unbescholtenheit und ein bestimmtes Lebens- 
alter gebunden —, Zugänglichkeit aller Beschäf- 
tigungen und Berufszweige und nicht minder der 
öffentlichen Amter für jedermann. Aber neben der 
Gleichheit der Rechte, welche vom Gesetz gewähr- 
leistet ist, und der Gleichheit der Bildung, welche 
täglich weitere Fortschritte macht, fehlt noch eines: 
Gleichheit des Besitzes und Genusses! Mit der 
Demokratisierung der Gesellschaft ist im Gegenteil 
eine wachsende Ungleichheit der Vermögen und 
der wirtschaftlichen Lage Hand in Hand gegangen: 
Anhäufung großer Kapitalien in verhältnismäßig 
wenigen Händen auf der einen Seite und auf der 
andern die Masse kapitalloser, unselbständiger 
Lohnarbeiter. Die Art und Weise, in welcher die 
Sozialdemokratie diese letzte und drückendste Un- 
gleichheit beseitigen will, findet an anderer Stelle 
eine ausführliche Darstellung und Kritik (s. d. 
Art. Sozialdemokratie). Das Eigentum in seiner 
bisherigen Form soll abgeschafft, die Gesamtheit 
aller Produktionsmittel, Grund und Boden, Roh- 
stoffe und Maschinen, sollen in Kollektiobesitz über- 
gehen, die unterschiedslosen Menschheitsatome in 
Arbeiterstaaten mit geregelter Produktion zusam- 
mengefaßt werden. Der vollkommene Sieg des 
Gleichheitsprinzips würde gleichbedeutend sein mit 
dem Untergang aller Freiheit, dem Tod jeder 
individuellen Lebensgestaltung, dem Niedergang 
unserer gesamten Zivilisation. — So kommt der 
Sozialdemokratie das Verdienst zu, die einseitige 
Überspannung des demokratischen Prinzips ad 
absurdum geführt und die an sein siegreiches 
Vordringen geknüpften Hoffnungen auf das rich- 
tige Maß zurückgeführt zu haben. Kein Staat 
kann von der gewonnenen Grundlage bürgerlicher 
Gleichheit wieder zurücktreten; in jedem wird in 
Zukunft die Fürsorge für die arbeitenden Klassen 
Depeschengeheimnis — Despotie. 
  
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im Sinn der Anerkennung ihrer berechtigten An- 
sprüche eine der wichtigsten Aufgaben sein. Aber 
es ist falsch, zu behaupten, daß die Demokratie 
die allein konsequente Ausgestaltung des modernen 
Staatsgedankens und die absolute Gleichheit 
aller das anzustrebende Ziel sei. 
Literatur. Gagern, Resultate der Sittengesch. 
III (1816); Zachariä, Vierzig Bücher vom Staat 
III (1826); Brougham, Political philosophy IlI. 
(1845); Bluntschli, Lehre vom mod. Staat 1 u. III 
(1875/76); Art. Démocratie v. H. Baudrillart 
im Dictionnaire général de la politique (1862 
u. ö.); Sumner Maine, Popular government 
(deutsch von P. Friedman, 1887); Al. de Tocque- 
ville, De la démocratie en Amérique (3 Bde, 
1836/40 u. ö.); Guizot, De la démocratie en 
France (Par. 1849); May, Democracy in Europe 
2 Bde, 1877); Flegler, Geschichte der D. 1 (1882); 
Schvarcz, D. von Athen 1 (1877); Edmond Sche- 
rer, La démocratie et la France (1883). Außer- 
dem im Staatslexikon der Görresgesellschaft die 
Art. Aristokratie, Monarchie, Republik, Sozial- 
demokratie. lv. Hertling.] 
s. Briefgeheimnis. 
Strafvollzug. 
s. Börse (Sp. 965). 
Depotgesetz s. Banken (Sp. 
576). 
Deposition s. Kirchenstrafen. 
Despotie. Sofern mit dem Namen Despotie 
ein spezifischer Sinn verbunden und derselbe nicht 
nur ohne schärfere Unterscheidung zur Bezeich- 
nung einer der verschiedenen Phasen des Abso- 
lutismus (s. diesen Art.) gebraucht wird, bezeichnet 
er den äußersten Grad absoluter Herrschaft. Ein 
Doppeltes ist damit gegeben. Zunächst die Ab- 
wesenheit jeglicher Schranke, welche der Willkür 
des Staatsoberhaupts entgegenstände. Sie steht 
über dem Gesetz, oder vielmehr, es gibt außer ihr 
kein Gesetz und darum auch kein Recht; Sitte 
und Herkommen haben ihr gegenüber keine Be- 
deutung, und der allenfalls noch erübrigende ein- 
schränkende Einfluß der Religion wird am lieb- 
sten dadurch beseitigt, daß der Person des Despo- 
ten eine übermenschliche Würde beigelegt wird. 
Das zweite hängt damit unmittelbar zusammen: 
von einem Zweck des Staates als der Ordnung 
menschlichen Gemeinlebens ist nicht die Rede. 
Derselbe ist vollkommen von dem Eigeninteresse 
des Staatsoberhaupts absorbiert. Die Untertanen 
sind eine recht= und willenlose Herde, lediglich 
dazu da, für den Despoten die Unterlage seiner 
Größe und die Mittel seiner Genüsse zu liefern. 
Das Prinzip einer derartigen Herrschaft ist nach 
Montesquien die Furcht. Ausgeübt wird sie in 
der Regel durch einen einzelnen, der sich dazu 
eines mehr oder minder ausgedehnten Apparats 
von Günstlingen, Leibwächtern, Spionen und so 
fort zu bedienen pflegt. Aber die Geschichte weiß 
auch von Despotien, deren Träger eine Mehrheit 
war. Man denke nur an jene vielköpfige Gewalt- 
herrschaft, welche nach dem Sturz der Giron- 
— 
    
 
	        
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