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Sozialdemokratie, um so gefährlicher, als
er sich rühmt, die Konsequenzen aus dem demo-
kratischen Prinzip erst vollständig zu ziehen und
den berechtigten Interessen der großen Massen
endlich eine wirkliche Befriedigung zu bringen.
Darum heißt die Alternative heute nicht so sehr:
Monarchie oder demokratische Republik, als viel-
mehr: Aufrechterhaltung der bestehenden Gesell-
schaftsordnung oder sozialistische Umgestaltung,
und es ist kein Zweifel, daß die erstere in dem
festen Gefüge des monarchischen Staates eine weit
festere Stütze findet als in einer demokratischen
Republik.
Man kann unabhängig von der Demokratie als
Staatsform von demokratischen Ideen, Tendenzen
und Einrichtungen sprechen. Dieselben kommen
sämtlich darin überein, daß in ihnen die bürger-
liche Gleichheit nachdrücklich zur Geltung gelangt.
Vieles davon ist heute in den meisten zivilisierten
Staaten tatsächlich durchgeführt: Gleichheit vor
dem Gesetz, allgemeine Wehrpflicht, allgemeiner
Schulzwang, politische Gleichberechtigung — in
den Ländern des allgemeinen Stimmrechts ist das
Wahlrecht der männlichen Bevölkerung nur an
die Unbescholtenheit und ein bestimmtes Lebens-
alter gebunden —, Zugänglichkeit aller Beschäf-
tigungen und Berufszweige und nicht minder der
öffentlichen Amter für jedermann. Aber neben der
Gleichheit der Rechte, welche vom Gesetz gewähr-
leistet ist, und der Gleichheit der Bildung, welche
täglich weitere Fortschritte macht, fehlt noch eines:
Gleichheit des Besitzes und Genusses! Mit der
Demokratisierung der Gesellschaft ist im Gegenteil
eine wachsende Ungleichheit der Vermögen und
der wirtschaftlichen Lage Hand in Hand gegangen:
Anhäufung großer Kapitalien in verhältnismäßig
wenigen Händen auf der einen Seite und auf der
andern die Masse kapitalloser, unselbständiger
Lohnarbeiter. Die Art und Weise, in welcher die
Sozialdemokratie diese letzte und drückendste Un-
gleichheit beseitigen will, findet an anderer Stelle
eine ausführliche Darstellung und Kritik (s. d.
Art. Sozialdemokratie). Das Eigentum in seiner
bisherigen Form soll abgeschafft, die Gesamtheit
aller Produktionsmittel, Grund und Boden, Roh-
stoffe und Maschinen, sollen in Kollektiobesitz über-
gehen, die unterschiedslosen Menschheitsatome in
Arbeiterstaaten mit geregelter Produktion zusam-
mengefaßt werden. Der vollkommene Sieg des
Gleichheitsprinzips würde gleichbedeutend sein mit
dem Untergang aller Freiheit, dem Tod jeder
individuellen Lebensgestaltung, dem Niedergang
unserer gesamten Zivilisation. — So kommt der
Sozialdemokratie das Verdienst zu, die einseitige
Überspannung des demokratischen Prinzips ad
absurdum geführt und die an sein siegreiches
Vordringen geknüpften Hoffnungen auf das rich-
tige Maß zurückgeführt zu haben. Kein Staat
kann von der gewonnenen Grundlage bürgerlicher
Gleichheit wieder zurücktreten; in jedem wird in
Zukunft die Fürsorge für die arbeitenden Klassen
Depeschengeheimnis — Despotie.
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im Sinn der Anerkennung ihrer berechtigten An-
sprüche eine der wichtigsten Aufgaben sein. Aber
es ist falsch, zu behaupten, daß die Demokratie
die allein konsequente Ausgestaltung des modernen
Staatsgedankens und die absolute Gleichheit
aller das anzustrebende Ziel sei.
Literatur. Gagern, Resultate der Sittengesch.
III (1816); Zachariä, Vierzig Bücher vom Staat
III (1826); Brougham, Political philosophy IlI.
(1845); Bluntschli, Lehre vom mod. Staat 1 u. III
(1875/76); Art. Démocratie v. H. Baudrillart
im Dictionnaire général de la politique (1862
u. ö.); Sumner Maine, Popular government
(deutsch von P. Friedman, 1887); Al. de Tocque-
ville, De la démocratie en Amérique (3 Bde,
1836/40 u. ö.); Guizot, De la démocratie en
France (Par. 1849); May, Democracy in Europe
2 Bde, 1877); Flegler, Geschichte der D. 1 (1882);
Schvarcz, D. von Athen 1 (1877); Edmond Sche-
rer, La démocratie et la France (1883). Außer-
dem im Staatslexikon der Görresgesellschaft die
Art. Aristokratie, Monarchie, Republik, Sozial-
demokratie. lv. Hertling.]
s. Briefgeheimnis.
Strafvollzug.
s. Börse (Sp. 965).
Depotgesetz s. Banken (Sp.
576).
Deposition s. Kirchenstrafen.
Despotie. Sofern mit dem Namen Despotie
ein spezifischer Sinn verbunden und derselbe nicht
nur ohne schärfere Unterscheidung zur Bezeich-
nung einer der verschiedenen Phasen des Abso-
lutismus (s. diesen Art.) gebraucht wird, bezeichnet
er den äußersten Grad absoluter Herrschaft. Ein
Doppeltes ist damit gegeben. Zunächst die Ab-
wesenheit jeglicher Schranke, welche der Willkür
des Staatsoberhaupts entgegenstände. Sie steht
über dem Gesetz, oder vielmehr, es gibt außer ihr
kein Gesetz und darum auch kein Recht; Sitte
und Herkommen haben ihr gegenüber keine Be-
deutung, und der allenfalls noch erübrigende ein-
schränkende Einfluß der Religion wird am lieb-
sten dadurch beseitigt, daß der Person des Despo-
ten eine übermenschliche Würde beigelegt wird.
Das zweite hängt damit unmittelbar zusammen:
von einem Zweck des Staates als der Ordnung
menschlichen Gemeinlebens ist nicht die Rede.
Derselbe ist vollkommen von dem Eigeninteresse
des Staatsoberhaupts absorbiert. Die Untertanen
sind eine recht= und willenlose Herde, lediglich
dazu da, für den Despoten die Unterlage seiner
Größe und die Mittel seiner Genüsse zu liefern.
Das Prinzip einer derartigen Herrschaft ist nach
Montesquien die Furcht. Ausgeübt wird sie in
der Regel durch einen einzelnen, der sich dazu
eines mehr oder minder ausgedehnten Apparats
von Günstlingen, Leibwächtern, Spionen und so
fort zu bedienen pflegt. Aber die Geschichte weiß
auch von Despotien, deren Träger eine Mehrheit
war. Man denke nur an jene vielköpfige Gewalt-
herrschaft, welche nach dem Sturz der Giron-
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