Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Deutsches Recht s. Recht, deutsches. 
Deutsches Reich. I. Geschichte. 1. Mit- 
telalter. Durch eine Reihe von Eroberungs- 
kriegen hatte Karl der Große die germani- 
schen Stämme des europälschen Festlandes unter 
seinem Zepter vereinigt und durch eine auf deut- 
sches Wesen und römischchristliche Bildung gestützte 
Gesetzgebung auf die Bahn höherer Gesittung ge- 
lenkt. Aber nur von kurzer Dauer war das ge- 
waltige Frankenreich; schon 843 teilte es der Ver- 
trag von Verdun in drei Ländermassen. Obwohl 
Karls Enkel eine nationale Trennung nicht beab- 
sichtigten, schied doch damals schon Lothars Besitz 
den romanischen Westen von dem germanischen 
Osten, dessen König Ludwig als Beherrscher rein 
„deutscher“ Gebiete den Beinamen „der Deutsche“ 
führte. Nachdem dieser im Vertrag von Mersen 
870 die östliche und sein Sohn Ludwig der Jüngere 
879 auch die westliche Hälfte Lothringens erworben 
hatte, war die nationale Trennung der romanischen 
und germanischen Gebiete des ehemaligen Franken- 
reichs vollendet: Ostfranken, welches die fünf 
Stämme der Südgermanen: Sachsen, Bayern, 
Franken, Alamannen und Lothringer, umfaßte, 
muß demnach als die älteste Gestaltung eines 
selbständigen Deutschlands angesehen werden. 
Von den drei Söhnen Ludwigs des Deutschen 
vereinigte der jüngste und unfähigste, Karl der 
Dicke, von 885 bis 887 noch einmal den Gesamt- 
besitz Karls des Großen. Nach seiner Absetzung 
zerfiel das Land nach Nationalitäten. In Ost- 
franken setzte eine selbständige Entwicklung ein. 
Zunächst freilich herrschte noch eine Seitenlinie der 
immer mehr entartenden Karolinger. Selbst der 
tatkräftigere Arnuls von Kärnten (887/889) konnte 
trotz seiner Erfolge gegen die Normannen die alte 
Kaisermacht nicht wiederherstellen. Die Regierung 
seines unmündigen Sohnes Ludwig des Kindes 
besiegelte in Ostfranken den Verfall der innern 
Rechtsordnung und der ehedem so gewaltigen 
Macht des ersten Kaisers. Zu den innern Wirren 
kam die schwere äußere Not: Normannen, Slawen 
und Ungarn suchten das Land schwer heim. Da 
eine kräftige Zentralgewalt zur Abwehr dieser 
Einfälle fehlte, schufen sich die auf sich selbst an- 
gewiesenen Stämme eine eigene abwehrkräftige 
Macht: die Stammesherzoge hatten ihre alte Be- 
deutung und Kraft wieder erlangt. Die Wurzeln 
der Entstehung waren freilich völlig andere als die 
der früheren Herzoge; das Wesen aber war dasselbe. 
Mit dem Aussterben der Karolinger trat die 
Erbfolge mehr zurück. Ostfranken wurde ein Wahl- 
reich eigentümlichster Art. Man hat die Form 
„Erbwahl“ genannt, indem Volkswahl und Erb- 
recht gewissermaßen einen Bund eingingen. Kon- 
rad I. (911/918) verdankte seine Erhebung in erster 
Linie seiner Verwandtschaft zum eben erloschenen 
Herrscherhause. Sein Plan, die Reichseinheit durch 
Vernichtung der Herzogsgewalt wiederherzustellen, 
mißlang völlig. Erst das sächsische Haus (919 
bis 1024), das mit Heinrich I. (919/936) den 
  
Deutsches Recht — Deutsches Reich. 
  
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Thron bestieg, hat das Verdienst, die Königsge- 
walt wieder gekräftigt zu haben, indem Heinrich 
scharfsinnig erkannte, daß dies unter den einmal 
geschichtlich gewordenen Verhältnissen nur durch 
eine Art Bündnis mit den Herzogen möglich sei. So 
stellte er Einheit und Umfang des Reichs dadurch 
wieder her, daß er von den Herzogen nur die unbe- 
dingte Anerkennung seiner königlichen Oberhoheit 
verlangte und Lothringen 925 mit Waffengewalt 
von Westfranken zurückgewann. Da er auch das 
deutsche Ubergewicht über die Dänen und Slawen 
erneuerte und den Ungarn 933 eine empfindliche 
Niederlage beibrachte, kann man ihn mit Recht 
den Begründer des deutschen Reichs nennen. Den 
Plan einer einheitlichen Herrschaft und einer star- 
ken Königsmacht verwirklichte sein Sohn Otto I. 
(936/973). Glücklich überwand er den sich aufs 
neue regenden Widerstand der Stammesherzoge 
und war mit Erfolg bemüht, sie von der Krone 
abhängig zu machen und zu schwächen. Klug be- 
rechnend übertrug er erledigte Herzogtümer seinen 
Verwandten oder den im Kampf gegen das Her- 
zogtumerprobten Freunden. Ihre Machtbeschränkte 
er durch Einsetzung ihm zuverlässig ergebener, die 
Herzoge überwachender Pfalzgrafen. Den genialen 
Scharfblick Ottos I. zeigt der enge Anschluß der 
königlichen Gewalt an die geistlichen Fürsten. 
In ihnen erkannte er die sicherste Stütze des König- 
tums; er fesselte sie an sich durch Verleihung be- 
deutsamer Rechte. So war der Bau des König- 
tums fest gefügt wie in den Tagen Karls des 
Großen. Auch nach außen erneuerte er durch 
glückliche Kriege die Machtstellung Karls des 
Großen und gewann auf seinem zweiten Zug 
nach Italien am 2. Febr. 962 auch die Kaiser- 
würde wieder, die seit Arnulf von Kärnten ruhte, 
von jetzt an aber bis 1254 mit dem deutschen 
Königtum vereinigt blieb. Durch Designation, d.h. 
durch einen vom König ausgesprochenen Wunsch, 
den Sohn bei der Wahl tunlichst zu berücksichtigen, 
suchten die Sachsen und Salier die Krone ihrem 
Hause zu erhalten. Die Wahlfkürsten erfüllten bei 
den Sachsen und Saliern diesen Wunsch. So 
folgte auf Otto I. sein Sohn Otto II. (973/988), 
diesem sein Sohn Otto III. (983/1002), die beide 
vergeblich ihre Kräfte einsetzten, um die deutsche 
Herrschaft über ganz Italien auszudehnen. Be- 
sonders Otto III. hing an dem phantastischen 
Gedanken, das alte römische Reich wiederherzu- 
stellen und Italien mit Rom als Hauptstadt zum 
Mittelpunkt eines Weltreichs zu machen. Deutsch- 
land sollte darin nur Nebenland sein. Die Festig- 
keit des Reichs und seinen Einfluß nach außen, 
die dadurch bedeutend gelitten hatten, stellte Hein- 
rich II. (1002/24) wieder her. Auch im Innern 
schuf er mit Hilse der Kirche Ordnung und Ruhe 
— allerdings nicht ohne erhebliche Einbuße an 
Macht, denn er mußte den großen Vasallen die 
Erblichkeit ihrer Lehen zugestehen. 
Als mit Heinrich II. die Familie der sächsischen 
Könige ausgestorben war, hatte sich der Gedanke 
 
	        
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