Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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den gemeinsamen Feind jenseits des Rheins zu 
führen, und als die militärische Entscheidung ge- 
fallen war, das größte und schönste Werk seiner 
Staatskunst zu vollenden. Für das junge Deutsche 
Reich war es dann von wesentlichem Vorteil, daß 
ihm noch 20 Jahre lang der überragende Staats- 
mann, dessen zielbewußte Politik im Ausland ge- 
achtet und gefürchtet war, als Kanzler erhalten 
blieb und daß dieser nicht mehr auf kriegerische 
Lorbeeren, sondern auf friedliche Befestigung der 
Reichsgrundlage bedacht war. Sein schönster Er- 
folg in der äußern Politik nach 1870/71 ist das 
Bündnis mit Osterreich. — So genial und ruhm- 
voll aber Bismarcks äußere Politik war, in der 
Leitung der innerpolitischen Angelegenheiten hat 
er manchen Fehlgriff getan. Hier ist ihm die Gabe 
richtiger Beurteilung der Sachlage, der ungemein 
scharfe Blick nicht immer eigen gewesen. Als völlig 
unparlamentarische und herrschgewaltige Natur 
mit eisernem Willen und von ungewöhnlicher Rück- 
sichtslosigkeit, befangen in den altpreußischen jun- 
kerlichen Anschauungen, wollte er, wie er na 
außen mit Blut und Eisen sein Werk geschaffen, 
auch im Innern ihm unsympathische und unver- 
ständliche Erscheinungen mit äußerster Gewalt 
unterdrücken. Aus anerzogenem Vorurteil gegen 
alles katholische Wesen und weil er in der katho- 
lischen Kirche eine Gefahr für das neue „prote- 
stantische Reich“ erblickte, wurde er der Haupt- 
träger des Kulturkampfs, des Versuches, die 
katholische Kirche, zunächst in Preußen, der sog. 
Staatsraison unbedingt dienstbar zu machen. Aus 
diesem schweren Streit ging er nicht als Sieger 
hervor. Aber anderseits muß anerkannt werden, 
daß er wieder einzulenken suchte und wenigstens 
die schwersten Härten beseitigte, als er die Erfolg- 
losigkeit seiner Politik und deren schwere Schäden 
für die innern Zustände des Reichs erkannte. 
Vielleicht wäre zu hoffen gewesen, daß er bei län- 
gerem Verbleib im Amte einer friedlichen Gestal- 
tung des Verhältnisses von Staat und Kirche noch 
weitere Dienste geleistet haben würde; in diesem 
Sinn wird Papst Leo XIII. das Wort zuge- 
schrieben: ihm fehle Bismarck. Seine Auffassung 
der durch den Umschwung im Wirtschaftsleben 
veränderten sozialen Lage der Massen zeigte, daß 
ihm die richtige Beurteilung für diese neue Er- 
scheinung abging. Seine Gegnerschaft gegen die 
eine einschneidende Arbeiterschutzgesetzgebung an- 
strebende Sozialreform und seine Gewaltpolitik 
gegenüber der Sozialdemokratie zeigen ihn wieder 
als altpreußischen Konservativen, aber nicht als 
modernen Staatsmann. Daß er nach seiner Ent- 
lassung von seinem Ruhesitz aus als „Nörgler“ 
an dem neuen politischen System bisweilen zu 
weit ging, ist wohl menschlich erklärlich, aber nicht 
immer entschuldbar. 
Bismarcks Nachfolger als Reichskanzler wurde 
der General v. Caprivi (geb. 1831, gest. 1899). 
Bedeutung erlangte die „Ara Caprivi“, abgesehen 
von dem durch die persönliche Initiative des 
  
Deutsches Reich. 
  
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Kaisers sehr geförderten Ausbau der Arbeiter- 
schutzgesetzgebung, auf zollpolitischem Gebiet. Die 
1879 eingeleitete Schutzzollpolitik hatte in den 
Jahren 1885 und 1887 noch eine Steigerung 
erfahren. Auf Grund von Vertragstarifen mit 
Meistbegünstigungsklausel schloß nun Caprivi 
eine Anzahl von Handelsverträgen mit andern 
Staaten ab, die zwar für den industriellen Auf- 
chwung Deutschlands die segensreichsten Folgen 
hatten, der deutschen Landwirtschaft aber be- 
rechtigten Anlaß zu bittern Klagen boten. Die 
heftigsten Angriffe richtete der 1893 gegründete 
„Bund der Landwirte“ gegen den „Mann ohne 
Ar und Halm“. Einen Konflikt zwischen Re- 
gierung und Reichstag brachte wiederum eine 
Militärvorlage. Dieselbe sah zwar die vielseitig 
gewünschte zweijährige Dienstzeit für die Fuß- 
truppen vor, forderte aber gleichzeitig eine wesent- 
liche Erhöhung der Friedenspräsenzstärke und da- 
mit eine erhebliche finanzielle Mehrbelastung. 
Der Widerspruch, der zuerst fast allgemein war, 
— 
ch wurde nur vom Zentrum und der linken Seite des 
Hauses aufrechterhalten. Als der Reichstag auch 
einen Kompromißantrag des Freiherrn v. Huene 
und einiger schlesischer Zentrumsmitglieder (Strei- 
chung von 13 000 Manng ablehnte, wurde er auf- 
gelöst (6. Mai 1893). Der neue Reichstag nahm 
gegen die Stimmen des Zentrums die Vorlage in 
der Hueneschen Fassung an, ohne vorläufig der 
Deckungsfrage näherzutreten. Die Regierung hatte 
wie schon im Jahr 1887 bei der Septennats- 
frage durch die päpstliche Kurie auf das Zentrum 
zugunsten der Heeresvorlage einzuwirken gesucht. 
Differenzen mit dem sehr einflußreichen preußischen 
Ministerpräsidenten Grafen Eulenburg über die 
von der Regierung eingebrachte Umsturzvorlage 
bewogen Caprivi zum Rücktritt (26. Okt. 1894). 
Die Kanzlerperiode des Fürsten Hohenlohe- 
Schillingsfürst (geb. 1819, gest. 1901), war 
reich an Erfolgen in legislatorischer Hinsicht, doch 
lag wie schon unter Caprivi die Initiative nicht 
beim Reichskanzler. In einzelnen Fällen, wie 
z. B. bei der Reform der Militärstrafprozeßord- 
nung und der Aufhebung des Koalitionsverbots 
für politische Vereine, wußte er sich jedoch gegenüber 
dem ursprünglichen Widerstand des Kaisers durch- 
zusetzen. Die Führung im Reichstag übernahm 
seit 1895 das Zentrum. Mit der Session 1895/96 
beginnt eine große Periode schöpferischer Arbeit 
des Reichstags. Es sei nur hingewiesen auf die 
Annahme des Bürgerlichen Gesetzbuchs, den wei- 
teren Ausbau und die Umgestaltung der sozialen 
Gesetzgebung, die Armeereform und Heeresver- 
stärkung, auf die Genehmigung der Mittel zu einer 
den wachsenden internationalen Aufgaben des 
Reichs entsprechenden Flotte (1897/98, 1900, 
1906), auf die Schaffung eines neuen der hei- 
mischen Arbeit und namentlich dem deutschen Land- 
wirt größeren Schutz gewährenden Zolltarifs 
(Dez. 1902), auf Grund dessen dann neue Handels- 
verträge abgeschlossen wurden, die 1906 in Kraft
	        
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