Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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gerichts genommen sein müssen. Die Mitglieder 
aller Disziplinarbehörden werden für die Dauer 
der zur Zeit ihrer Ernennung von ihnen beklei- 
deten Reichs= oder Staatsämter ernannt. Das 
Recht der Begnadigung hat der Kaiser. Diese 
Grundsätze enthalten einen wesentlichen Fortschritt 
des Beamtenrechts, insofern sie auch die Diszi- 
plinarsachen der nicht richterlichen Beamten den 
vorgesetzten Behörden nehmen und selbständigen 
Disziplinargerichten überweisen, deren Mitglieder 
zum überwiegenden Teil Richter und dauernd an- 
gestellt sind. Eine Aufnahme dieser Grundsätze 
in das Staatsrecht der Einzelstaaten ist durchaus 
wünschenswert. — Durch besondere, vom Reichs- 
beamtengesetz erheblich abweichende kaiserliche Ver- 
ordnungen sind die Disziplinarverhältnisse der 
Kolonialbeamten geregelt. 
Schon lange vor der Ausbildung dieses staat- 
lichen Disziplinarwesens hat die katholische 
Kirche ihr Verhältnis zu ihren Beamten, den 
Geistlichen, an feste Normen geknüpft, welche den 
Geistlichen gegenüber der Willkür seiner Oberen 
weit wirksamer schützen, als die staatlichen Beamten 
heute geschützt sind oder jemals geschützt waren. 
Ein abgesondertes Disziplinarrecht hat die Kirche 
jedoch nicht entwickelt. Sie straft die Verletzungen, 
deren sich ein Geistlicher gegen seine Amts= und 
Standespflichten schuldig macht, nach ihren all- 
gemeinen Strafgrundsätzen. Sie beansprucht zu 
diesem Zweck für ihre Geistlichen eine eigene, 
ausschließliche Gerichtsbarkeit, welche sich ebenso 
in dem ihr von Christus erteilten Auftrag grün- 
det wie die Gerichtsbarkeit in kirchlichen Sachen 
überhaupt. Als Disziplinarstrafen gegen Geist- 
liche kennt das kirchliche Recht körperliche Züchti- 
gung, jedoch nicht bis zum Blutvergießen und nur 
bei jüngeren Geistlichen, welche noch keine höheren 
Weihen erhalten haben (in Deutschland nicht 
mehr in Übung), Geldstrafen, Strafversetzung, 
Einsperren in ein Kloster oder in ein geistliches 
Korrektionshaus (Demeritenanstalt), Suspension 
von der Ausübung der Amtsverrichtungen, Ent- 
ziehung des Amtes und Einkommens, Ausstoßung 
aus dem geistlichen Stand, Exkommunikation 
und Entziehung des kirchlichen Begräbnisses. Die 
Gerichtsbarkeit übt in erster Instanz der Diözesan- 
bischof, in zweiter der Erzbischof, in dritter der 
Papst aus. Das Verfahren ist genau geregelt, 
jedoch vielfach nach Dibßzesen verschieden. Eine 
staatliche Hilfeleistung zur Vollstreckung der kirch- 
licherseits verhängten Disziplinarstrafen gegen 
Geistliche findet heute nicht mehr statt. Für Oster- 
reich s. hierzu Art. XI des Konkordats (Patent 
vom 5. Nov. 1855) und Erlaß des Kultus= und 
Unterrichtsministeriums vom 7. Juni 1869. Des- 
gleichen steht der Kirche eine Disziplinargewalt 
über die Laien zu, um dieselben zur Erfüllung 
ihrer religiösen Pflichten und zu einem christlichen 
Leben anzuhalten. Die schwersten Disziplinar= 
strafen sind auch für die Laien Exkommunikation 
und Entziehung des kirchlichen Begräbnisses. 
Disziplin ufw. 
  
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In dieses kirchliche Recht hat während des 
Kulturkampfs in Preußen der Staat eigen- 
mächtig eingegriffen durch das Gesetz über die 
Grenzen der kirchlichen Disziplinargewalt und die 
Errichtung des Königlichen Gerichtshofs für kirch- 
liche Angelegenheiten vom 12. Mai 1873 (s. d. Art. 
Kulturkampf). Es duldete eine kirchliche 
plinargewalt über Kirchendiener nur von 
kirchlichen Behörden, baschränkte die 
Strafen, unterstellte die Ausübung der 
Disziplinargewalt auf Schritt und 
staatlichen Aufsicht und dem staatlichen Einfluß, 
eröffnete in den weitaus meisten Fällen eine Be- 
rufung an die Staatsbehörde, begründete eine 
eigene, direkte staatliche Disziplinargewalt über 
Geistliche und errichtete als erste und letzte Instanz 
in allen diesen kirchlichen Angelegenheiten einen 
rein staatlichen Gerichlshof, den „Königlichen 
Gerichtshof für kirchliche Angelegenheiten“ in 
Berlin. Diesem Gesetz, welches die Organisation 
der Kirche zu zerstören sowie ihre Freiheit und 
Selbständigkeit aufs äußerste zu beschränken 
drohte, haben die katholische Kirche und das katho- 
lische Volk den nachhaltigsten passiven Widerstand 
entgegengesetzt in der richtigen Erkenntnis, daß 
dasselbe der Schlußstein des Gebäudes der staat- 
lichen „Maigesetzgebung“ war. Gleichzeitig mit 
diesem Gesetz erging das Gesetz über die Grenzen 
des Rechts zum Gebrauch kirchlicher Straf= und 
Zuchtmittel vom 13. Mai 1873, welches in 
ähnlicher Weise die kirchliche Disziplinargewalt 
über Laien beschränkte. Beide Gesetze erfuhren 
durch die vierte kirchenpolitische Novelle (s. d. Art. 
Kulturkampf), Gesetz betreffend Abänderung der 
kirchenpolitischen Gesetze vom 21. Mai 1886, 
eine gänzliche Umgestaltung. Die päpstliche Diszi- 
plinargewalt wurde wieder zugelassen, der Ge- 
richtshof für kirchliche Angelegenheiten und die 
Berufung an den Staat fast überall (s. d. Art. 
Kompetenzkonflikt) aufgehoben. Der durch die 
erwähnte Novelle hergestellte Zustand auf diesem 
Gebiet ist theoretisch keineswegs befriedigend, in 
der Praxis jedoch, so wie sie sich bis jetzt tatsächlich 
gestaltet hat, allenfalls erträglich. 
Die evangelischen Landeskirchen in Deutsch- 
land haben die Disziplin über ihre Kirchendiener 
vielfach anders ausgebildet. Sie wird regelmäßig 
gehandhabt durch die Konsistorien; in Preußen 
in letzter Instanz durch den Evangelischen Ober- 
kirchenrat. Für die evangelische Landeskirche in 
Preußen vgl. das Kirchengesetz betreffend die Dienst- 
vergehen der Kirchenbeamten und die unfreiwil- 
lige Versetzung derselben in den Ruhestand vom 
16. Juli 1886. 
Quellen. Gesetz betr. die Rechtsverhältnisse 
der Reichsbeamten vom 31. März 1873. Verord- 
nung betr. die Abgrenzung der Bezirke der Diszi- 
plinarkammern vom 11. Juli 1873. Preuß. Gesetz 
vom 21. Juli 1852 u. vom 9. April 1879. Sächs. 
Gesetz vom 3. Juni 1876 u. vom 20. März 1880. 
Württ. Gesetz vom 28. Juni 1876. Hesf. Gesetz 
   
 
	        
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