Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

1319 
zelnen getragen wurden, erweiterten sich allmählich 
zur allgemeinen Unzufriedenheit und zum offenen 
Widerstand gegen die bisherige Lebensordnung. 
Zwei Umstände begünstigten die Opposition. Im 
Lauf der Zeit war den Kapiteln durch Schenkungen 
und Vermächtnisse ein ausgedehnter Güterbesitz 
zugefallen, in dessen Genuß die Kanoniker durch 
kein Gelübde der Armut gehindert waren. Über- 
haupt aber war in der Kirche an Stelle des alten 
Grundsatzes der Verteilung der kirchlichen Ein- 
künfte durch den Bischof die Spezialisierung des 
kirchlichen Vermögens und die feste Dotierung der 
einzelnen Kirchenämter getreten. » 
Den ersten realen Erfolg hat diese Richtung 
zur Lockerung und allmählichen Auflösung des 
gemeinsamen Lebens in dem Domkapitel von 
Köln unter dem Erzbischof Gunthar errungen. 
Das Domkapitel erwirkte Teilung der Gemein- 
schaftsgüter in bona episcopi (mensa episco- 
palis) und bona capituli mit Gewährung selb- 
ständiger, von dem Bischof unabhängiger Güter- 
verwaltung. Es erlangte sodann die Berechtigung, 
durch kapitularische Wahl sich selbst Vorgesetzte zu 
geben und in derselben Weise neue Mitglieder 
aufzunehmen. Das Gemeinschaftsleben wurde zu- 
nächst noch beibehalten, aber freier und bequemer 
ausgestaltet. Bald schritt man über diese Ver- 
änderung hinaus, und es kam auch zur Auf- 
teilung und Individualisierung des Kapitels- 
guts. Die Grundstücke, Zehnten und Einkünfte, 
aus denen dasselbe bestand, wurden in so viele 
Portionen zerlegt, als canonici vorhanden waren, 
und jedem das in natura überwiesen, was auf 
seinen Anteil fiel. Mit dieser Auflösung des 
gemeinschaftlichen Vermögens in solche einzelne 
Teile, die dann Präbenden genannt wurden, war 
die Sprengung der vita communis vollendet. Nur 
in der Einrichtung, daß die Mitglieder des Dom- 
kapitels an bestimmten Tagen gemeinschaftliche 
Mahlzeiten hielten, blieb eine gewisse Erinnerung 
Lan die frühere volle Gemeinschaft gewahrt (Hüffer, 
Forschungen auf dem Gebiet des französischen 
und rheinischen Kirchenrechts [1863)). 
Gleiche Auflösungs= und Zersetzungsprozesse 
vollziehen sich zu gleicher Zeit oder im 10. Jahrh. 
auch in andern Kapiteln. Hier traten sie früher 
ein, dort später. Nahezu allerorten läßt sich eine 
allmähliche stufenweise Entwicklung derselben er- 
kennen. Wie sehr der Verlauf dieser Auflösung 
von den lokalen Zuständen und den persönlichen 
Stimmungen und vor allem von dem schwächeren 
oder kräftigeren Regiment des jedesmaligen Bi- 
schofs bestimmt wurde, möchte sich aus der Er- 
scheinung nachweisen lassen, daß während dieser 
Zeit allmählicher, aber fast allgemeiner Beseitigung 
der vita communis solche an einigen Kirchen 
erst eingeführt wurde. 
Ubrigens trat gegen jene zersetzende Bewegung 
schon im 11. Jahrh. eine erfolgreiche Reaktion 
ein. Die Führer und Förderer derselben, unter 
denen der hl. Petrus Damiani (gest. 1072) und 
  
Domkapitel. 
  
1320 
Gerhoh von Reichersberg (gest. 1169) die hervor- 
ragendsten Männer waren, gingen dabei von der 
richtigen Erkenntnis aus, daß der Verfall eines 
für die klerikale Zucht und kirchliche Wirksamkeit 
so heilsamen Instituts durch Bestimmungen der 
Lebensordnung selbst, wenn auch nicht veranlaßt, 
so doch vielleicht gefördert worden war. Darum 
erstrebten sie zunächst eine Reform oder vielmehr 
Beseitigung derselben. An Stelle der alten Regeln 
wurde eine neue verfaßt, deren Einzelbestimmungen 
größtenteils den Sermonen des hl. Augustinus 
entlehnt waren und die darum auch Augustiner- 
regel genannt wurde. Unter Mitwirkung mehrerer 
Pöpste gelang es auch, die vita communis nach 
dieser strengeren Regel bei vielen Kapiteln wieder- 
herzustellen oder einzuführen. Die Mitglieder 
derselben wurden canonici regulares genannt, 
wie die der übrigen canonici saeculares hießen. 
Indes war dieses Reformbestreben weder an- 
dauernd noch mächtig genug, um die Schwierig-= 
keiten einer allgemeinen Durchführung zu über- 
winden. 
Namentlich die politische Stellung, welche 
gerade in jener Zeit die Domkapitel auf Grund 
selbständigen Güterbesitzes neben dem Bischof 
als Territorialherren einzunehmen begannen, bil- 
dete ein fast unbesiegliches äußeres Hindernis. 
Vollends aber scheiterte die Reform an dem in- 
nern Widerstreben der unter diesen Umständen 
noch mehr verweltlichten Kanoniker, denen eine 
Regel, welche vollen Verzicht auf das in langem 
Kampf Errungene forderte, unannehmbar er- 
scheinen mußte. Um die Mitte des 13. Jahrh. 
war daher fast jede Spur eines gemeinsamen 
Lebens aus den Domkapiteln verschwunden. Von 
dieser Zeit beginnt, ganz im Gegensatz zu der 
versuchten oder eingeführten Reform, eine Ent- 
wicklung derselben, aus der sie als mächtige Kor- 
porationen hervorgehen, die in aller Selbständig- 
keit und vielfach in vollster Unabhängigkeit neben 
und mit den Bischöfen als Kirchenfürsten und 
Landesherren weitgehende kirchliche und politische 
Rechte ausüben. 
Was die Verfassung und innere Organi- 
sation derselben betrifft, so enthalten sie unver- 
kennbar dieselben Grundzüge wie früher, mußten 
aber notwendig mit der erlangten Selbständigkeit 
und der Beseitigung des gemeinsamen Lebens in 
der Weiterentwicklung manche Verschiedenheiten 
annehmen, wie örtliche Zustände und persönliche 
Verhältnisse sie nahelegten. Auch so läßt sich 
freilich bei den meisten Kapiteln ein ziemlich gleich- 
mäßiger Verfassungs= und Organisationstypus 
ohne Schwierigkeit abheben. Danach bestanden 
die Mitglieder derselben, welche trotz der Auf- 
hebung der vita canonica den alten Namen 
canonici fortführten, aus drei unter sich rechtlich 
verschiedenen Kategorien. Die erste umfaßte 
die canonici capitulares, b. h. solche Mitglieder, 
denen das Stimmrecht (votum in capitulo) zu- 
stand, die einen besondern hervorragenden Sitz in
	        
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