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zelnen getragen wurden, erweiterten sich allmählich
zur allgemeinen Unzufriedenheit und zum offenen
Widerstand gegen die bisherige Lebensordnung.
Zwei Umstände begünstigten die Opposition. Im
Lauf der Zeit war den Kapiteln durch Schenkungen
und Vermächtnisse ein ausgedehnter Güterbesitz
zugefallen, in dessen Genuß die Kanoniker durch
kein Gelübde der Armut gehindert waren. Über-
haupt aber war in der Kirche an Stelle des alten
Grundsatzes der Verteilung der kirchlichen Ein-
künfte durch den Bischof die Spezialisierung des
kirchlichen Vermögens und die feste Dotierung der
einzelnen Kirchenämter getreten. »
Den ersten realen Erfolg hat diese Richtung
zur Lockerung und allmählichen Auflösung des
gemeinsamen Lebens in dem Domkapitel von
Köln unter dem Erzbischof Gunthar errungen.
Das Domkapitel erwirkte Teilung der Gemein-
schaftsgüter in bona episcopi (mensa episco-
palis) und bona capituli mit Gewährung selb-
ständiger, von dem Bischof unabhängiger Güter-
verwaltung. Es erlangte sodann die Berechtigung,
durch kapitularische Wahl sich selbst Vorgesetzte zu
geben und in derselben Weise neue Mitglieder
aufzunehmen. Das Gemeinschaftsleben wurde zu-
nächst noch beibehalten, aber freier und bequemer
ausgestaltet. Bald schritt man über diese Ver-
änderung hinaus, und es kam auch zur Auf-
teilung und Individualisierung des Kapitels-
guts. Die Grundstücke, Zehnten und Einkünfte,
aus denen dasselbe bestand, wurden in so viele
Portionen zerlegt, als canonici vorhanden waren,
und jedem das in natura überwiesen, was auf
seinen Anteil fiel. Mit dieser Auflösung des
gemeinschaftlichen Vermögens in solche einzelne
Teile, die dann Präbenden genannt wurden, war
die Sprengung der vita communis vollendet. Nur
in der Einrichtung, daß die Mitglieder des Dom-
kapitels an bestimmten Tagen gemeinschaftliche
Mahlzeiten hielten, blieb eine gewisse Erinnerung
Lan die frühere volle Gemeinschaft gewahrt (Hüffer,
Forschungen auf dem Gebiet des französischen
und rheinischen Kirchenrechts [1863)).
Gleiche Auflösungs= und Zersetzungsprozesse
vollziehen sich zu gleicher Zeit oder im 10. Jahrh.
auch in andern Kapiteln. Hier traten sie früher
ein, dort später. Nahezu allerorten läßt sich eine
allmähliche stufenweise Entwicklung derselben er-
kennen. Wie sehr der Verlauf dieser Auflösung
von den lokalen Zuständen und den persönlichen
Stimmungen und vor allem von dem schwächeren
oder kräftigeren Regiment des jedesmaligen Bi-
schofs bestimmt wurde, möchte sich aus der Er-
scheinung nachweisen lassen, daß während dieser
Zeit allmählicher, aber fast allgemeiner Beseitigung
der vita communis solche an einigen Kirchen
erst eingeführt wurde.
Ubrigens trat gegen jene zersetzende Bewegung
schon im 11. Jahrh. eine erfolgreiche Reaktion
ein. Die Führer und Förderer derselben, unter
denen der hl. Petrus Damiani (gest. 1072) und
Domkapitel.
1320
Gerhoh von Reichersberg (gest. 1169) die hervor-
ragendsten Männer waren, gingen dabei von der
richtigen Erkenntnis aus, daß der Verfall eines
für die klerikale Zucht und kirchliche Wirksamkeit
so heilsamen Instituts durch Bestimmungen der
Lebensordnung selbst, wenn auch nicht veranlaßt,
so doch vielleicht gefördert worden war. Darum
erstrebten sie zunächst eine Reform oder vielmehr
Beseitigung derselben. An Stelle der alten Regeln
wurde eine neue verfaßt, deren Einzelbestimmungen
größtenteils den Sermonen des hl. Augustinus
entlehnt waren und die darum auch Augustiner-
regel genannt wurde. Unter Mitwirkung mehrerer
Pöpste gelang es auch, die vita communis nach
dieser strengeren Regel bei vielen Kapiteln wieder-
herzustellen oder einzuführen. Die Mitglieder
derselben wurden canonici regulares genannt,
wie die der übrigen canonici saeculares hießen.
Indes war dieses Reformbestreben weder an-
dauernd noch mächtig genug, um die Schwierig-=
keiten einer allgemeinen Durchführung zu über-
winden.
Namentlich die politische Stellung, welche
gerade in jener Zeit die Domkapitel auf Grund
selbständigen Güterbesitzes neben dem Bischof
als Territorialherren einzunehmen begannen, bil-
dete ein fast unbesiegliches äußeres Hindernis.
Vollends aber scheiterte die Reform an dem in-
nern Widerstreben der unter diesen Umständen
noch mehr verweltlichten Kanoniker, denen eine
Regel, welche vollen Verzicht auf das in langem
Kampf Errungene forderte, unannehmbar er-
scheinen mußte. Um die Mitte des 13. Jahrh.
war daher fast jede Spur eines gemeinsamen
Lebens aus den Domkapiteln verschwunden. Von
dieser Zeit beginnt, ganz im Gegensatz zu der
versuchten oder eingeführten Reform, eine Ent-
wicklung derselben, aus der sie als mächtige Kor-
porationen hervorgehen, die in aller Selbständig-
keit und vielfach in vollster Unabhängigkeit neben
und mit den Bischöfen als Kirchenfürsten und
Landesherren weitgehende kirchliche und politische
Rechte ausüben.
Was die Verfassung und innere Organi-
sation derselben betrifft, so enthalten sie unver-
kennbar dieselben Grundzüge wie früher, mußten
aber notwendig mit der erlangten Selbständigkeit
und der Beseitigung des gemeinsamen Lebens in
der Weiterentwicklung manche Verschiedenheiten
annehmen, wie örtliche Zustände und persönliche
Verhältnisse sie nahelegten. Auch so läßt sich
freilich bei den meisten Kapiteln ein ziemlich gleich-
mäßiger Verfassungs= und Organisationstypus
ohne Schwierigkeit abheben. Danach bestanden
die Mitglieder derselben, welche trotz der Auf-
hebung der vita canonica den alten Namen
canonici fortführten, aus drei unter sich rechtlich
verschiedenen Kategorien. Die erste umfaßte
die canonici capitulares, b. h. solche Mitglieder,
denen das Stimmrecht (votum in capitulo) zu-
stand, die einen besondern hervorragenden Sitz in