Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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allein hat eine Gesellschaftslehre, weil er allein 
die Wissenschaft vom Menschen besitzt. Wo der 
Katholizismus, die ganze Wahrheit und uner- 
schütterliche Festigkeit, nicht ist, obsiegt der Irr- 
tum und der Umsturz des Sozialismus. Der 
Liberalismus, der sich als Mittelglied zwischen 
beide schiebt, ist ein falsches System. Er geht vom 
Skeptizismus und der Indifferenz aus, beruht auf 
der gänzlichen Verkennung der wirklichen Natur 
des Menschen, gibt wie die gesamte politische, so 
die gesamte religiöse Ordnung der Bekämpfung 
preis und ist darum ebenso ohnmächtig, irgend 
etwas zu retten, wie schuld, daß alles zugrunde 
geht. In einer Sprache, die trotz der Dunkelheit 
einer an manchen Stellen sich drängenden apo- 
kalyptischen Bildersprache schwerlich in Kraft, Geist 
und Tiefe ihresgleichen finden dürfte, war somit 
die endgültige Prognose des höchsten Problems 
der Gegenwart gestellt. 
In überschwenglichem Lob wie in den bittersten 
Angriffen zeigte sich alsbald die Wirkung des 
Buches. Beide beachtete Donoso Cortés nicht. 
Auch in Bezug auf die vom Herzog de Broglie 
gegen die philosophischen Anschauungen des 
P. Ventura, die literarischen des Abbé Gaume 
und die politischen und sozialen des Donoso 
Cortés (Revue des Deux Mondes, 1. Nov. 1852) 
zugleich erhobene Kontroverse führte letzterer den 
Grundsatz strengster persönlicher Selbstverleugnung 
durch. Gegen die beiden Haupteinwendungen 
de Broglies, die von Donoso Cortés vertretene 
direkte Gewalt der Kirche über das Zeitliche 
resultiere weder aus dem Wesen des Christentums 
noch aus der Geschichte der Kirche, und die be- 
züglichen Institutionen der Kirche seien heute nicht 
zeitgemäß, unmöglich, gefahrvoll, erinnerte Donoso 
Cortés einfach daran, sein Ideal sei nicht das ge- 
meine Recht Konstantins noch das Schutzrecht der 
Cäsaren nach Theodosius, sondern das Jahrhun- 
dert Innozenz' III. und des hl. Ludwig, d. h. eine 
Zeit der vollen Entfaltung des kirchlichen Lebens 
in Reinheit, Kraft und Schöne, und was die An- 
wendung der kirchlichen Institutionen früherer Zeit 
heute anlange, so sei das eine Sache der Weisheit 
der göttlich geleiteten Kirche. Weder diese Einrede 
noch die ihn immer heftiger bekämpfende Stimme 
der Tagespresse vermochten das geringste an seiner 
exponierten persönlichen und gesellschaftlichen Stel- 
lung zu ändern. Donoso Cortés genoß in den 
höchsten Pariser Kreisen unter den politischen Zele- 
britäten ein so unbestrittenes Ansehen, daß alles 
mit einer Art scheuer Ehrfurcht vor dem Mann 
sich beugte, der wie kein anderer mit Autorität, 
selbstbewußter Würde und Unbefangenheit sein 
Land an höchster Stelle zu repräsentieren verstand 
und dennoch für seine Person eine christliche Cha- 
raktergröße blieb, die man in der diplomatischen 
Welt nicht zu suchen pflegt; ein Mann, der vier 
Fünftel seiner fürstlichen Einkünfte den Armen 
gab, die er persönlich aufzusuchen, zu trösten, als 
seine besondern Lieblinge zu schützen pflegte, der 
Staatslexikon. I. 3. Aufl. 
Donoso Cortés. 
  
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persönlich im höchsten Glanz wie ein Armer, ein 
Büßer, ein Einsiedler lebte, und dessen sympathische 
Erscheinung hinreichte, um zu einen, was tief un- 
eins war. 
Wenige Monate vor seinem Tod, Anfang Jan. 
1853, erschien im Ami de la Religion gegen den 
Essai die Anklage „auf theologische und philo- 
sophische Irrtümer“ in einer Sprache, in welcher 
Donoso Cortés seine Orthodoxie, „das Herz seines 
Herzens“, verwundet sah. Vor den Augen Europas 
als „ein Vergifter der Seelen und als ein Aus- 
breiter jener ungeheuerlichen Irrtümer“ sich dar- 
gestellt zu sehen, die von der Kirche tausendmal 
verurteilt waren, das ertrug er, die personifizierte 
Milde und Selbstverleugnung, nicht. Obschon 
sofort die angesehensten Theologen sich zu seiner 
Rechtfertigung erhoben, wollte er nichf, daß auch 
nur ein Hauch des Argernisses an seinem Namen 
haften bleibe. Mit dem von ihm formulierten 
Appell an das Urteil Pius' IX. gab er alsbald in 
der Tagespresse seine rückhaltlose Unterwerfung 
unter dasselbe bekannt. Schon am 25. März 1853 
erschien die Antwort Pius' IX., welche „den Eifer 
für die heilige Religion, die Hingebung an die 
apostolische Autorität, den Umfang und die Festig- 
keit des Gehorsams“ belobte und eine Prüfung 
des Essai ankündigte. Am 16. April desselben 
Jahres brachte die Civilta cattolica eine offiziöse 
Besprechung des Essai, die alsbald als das Re- 
sultat der theologischen Prüfung angesehen 
wurde. Nach einer Analyse des Planes und der 
Ausführung heißt es: „Diese kurze Analyse ent- 
hebt uns der Pflicht des Lobes gegen den Ver- 
fasser und sein Buch. Wir wissen nicht, was wir 
mehr loben sollen: die Pracht des Stils oder die 
Schönheit der innern Ordnung, die Klarheit und 
Erhebung des Gedankens oder die Kraft der Be- 
weisführung und die durchdringende Schärfe der 
Polemik, die Tiefe der Lehre oder die Reinheit des 
Glaubens oder endlich jenen Adel einer immer er- 
habenen, hochherzigen und eminent katholischen 
Gesinnung, welcher das Erbteil jener spanischen 
Nation ist, deren Stolz der Marquis von Valde- 
gamas bleibt.“ In der Einzelkritik wurde an- 
erkannt, daß Donoso Cortés in der Lehre von 
Gott, der Trinität, der Wahlfreiheit, der Erb- 
sünde, des Zustandes des gefallenen Menschen, 
der motiva credibilitatis sich einer von der ge- 
wöhnlichen Ausdrucksweise abweichenden Sprache 
bedient, die gewisse Personen zur Annahme ver- 
leitet habe, als entferne er sich von der gewöhn- 
lichen Lehre. Zwei Gründe entschuldigten die an- 
scheinende „Kühnheit“ der Propositionen bei einem 
so erleuchteten Katholiken: einmal seine auf das 
Absolute hingerichtete Denk= und Sprachweise, 
dann seine Unbekanntschaft nicht mit der Lehre, 
sondern mit der theologisch-technischen Ausdrucks- 
weise. „Es geht, glauben wir, nicht zu weit, wenn 
wir sagen, daß für alle oder fast alle zensurierten 
Ausdrücke etwas Ahnliches oder etwas Aquiva- 
lentes bei den gefeiertsten der alten Lehrer sich 
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