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werbe, die Ausbildung der städtischen Gemein-
wesen entwickelten sich und blühten immer erst
im Gefolge der fortschreitenden Entwicklung des
Ackerbaus. „Durch den Geist seiner Agrargesetz-
gebung“, sagt Justus Möser, „erhält die ganze
innere Geschichte eines Volkes ihren Charakter
und ihre Richtung.“
In unserem Weltteil sind es wesentlich zwei scharf
ausgebildete Systeme, welche sich in der Gesetz-
gebung wie in der Wissenschaft gegenüberstehen:
das System der rechtlichen Freiheit und das der
prinzipiellen Gebundenheit des Grund und Bodens,
die freie und die unfreie Agrarverfassung. Damit
steht selbstredend die Freiheit der Person als solcher
in engster Wechselbeziehung. Das freie Agrar-
system beruht auf dem Satz, daß das Eigentum
als ein individuelles, absolutes, d. h. an sich un-
umschränktes und ausschließliches Recht anerkannt
werde, derartig, daß dieses absolute Recht des wirk-
lichen Eigentümers jederzeit in dem nicht minder
absoluten, mithin ebenfalls unverkümmerbaren
Recht jedes künftigen Erwerbers seine naturgemäße
Beschränkung finden müsse. Jede Beschränkung
dieses wesentlich freien und vollkommenen Eigen-
tums ist hiernach als Ausnahme von der Regel zu
behandeln und darum nur kraft einer vom Gesetz
anerkannten allgemeinen und objektiven Nützlichkeit
zu gestatten. Das System der freien Agrarverfas-
sung erkennt daher zwar die Zulässigkeit der durch
die natürliche Lage der Grundstücke und durch
das dauernde Interesse ihrer Benutzung bedingten
gesetzlichen oder vertragsmäßigen Servituten an,
keineswegs aber auch die Trennung des Eigen-
tums in das sog. Ober= und Unter= (Nutzungs-)
Eigentum oder dessen Einschnürung durch auto-
nome Dispositionen (Anerbenrechte, Fideikom-
misse), noch auch die ewige Ausschließung der
Veräußerlichkeit, der Teilbarkeit oder des gleichen
Erbrechts hinsichtlich gewisser Gütermassen als im
Recht der einzelnen und im Interesse der Ge-
samtheit begründet. Es geht von der theoretischen
Voraussetzung und der praktischen Behauptung
aus, daß bei voller Freiheit der Veräußerung und
Erwerbung von Grund und Boden der letztere
durchweg in den jederzeit geeigneten Größen-
verhältnissen demjenigen Besitzer zugeführt werde
und werden müsse, welcher persönlich und sachlich
zu dessen wirtschaftlicher Benutzung am meisten
befähigt und gewillt sei, mithin voraussichtlich dem
Boden den höchsten Ertrag abzugewinnen ver-
möge, und beruft sich auf die Erfahrung, daß alle
diesem System huldigenden Staaten die größten
ökonomischen und sozialen Fortschritte bekunden.
— Das entgegengesetzte System der Gebunden-
heit erkennt gerade umgekehrt in der dauernden
Beschränkung des freien Verfügungsrechts über
das Grundeigentum die unerläßliche Bedingung
einer gesicherten Zukunft der Familien und damit
des Staats in ökonomischer wie auch in sozialer
und politischer Beziehung. Es statuiert deshalb,
teils durch Gesetz teils auf dem Weg autonomer
Agrargesetzgebung, Agrarpolitik.
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Willensbestimmung, das geteilte Eigentum, An-
erben= und Fideikommißrecht, das Verbot der
Teilung der Bauerngüter, ja des Grundeigen-
tums überhaupt unter einem zu bestimmenden
Besitz= oder Stückminimum, und geht dabei seiner-
seits von der Voraussetzung aus, daß die un-
beschränkte Freiheit der Verfügung über Grund
und Boden notwendig und unaufhaltsam zu stets
fortschreitender Zersplitterung, ja zur Mobili-
sierung des einzig beständigen Elements im Staats-
leben führe. Das Grundeigentum, so behaupten
die Anhänger dieses Systems, zerfalle dann in
Staub, es mindere sich in demselben Verhältnis
sein Ertrag, während die Bevölkerung stetig wachse,
mithin unabweisbar in Proletariat und Massen-
armut versinken und den Staat schließlich zugrunde
richten müsse. (Nach P. Reichensperger, Die freie
Agrarverfassung, 1858.)
Der Gegensatzbeider Systeme istdemnach, gleich-
wie der von Freihandel und Schutzzoll, ein all-
gemeiner, die wichtigsten Fragen der Gesetzgebung
unmittelbar betreffender. Wie ein jedes System,
in sein äußerstes Extrem verfolgt, seine allseitige
Berechtigung verliert und mit den realen Verhält-
nissen und Bedürfnissen der Zeit in Widerspruch
gerät, so ist es auch, ja vorzugsweise, mit diesen
der Fall. Wenn irgendwo, so entscheidet gerade
hier die Relativität. Wie der Grund und Boden
selbst in seinen einzelnen Kulturarten in gleicher
Zone doch nicht überall derselbe ist, so auch nicht
das ihn bewohnende, beackernde Volk. Und doch
gehören Boden und Volk zusammen, bilden wie
Körper und Geist ein organisches, naturnotwen-
diges Ganzes. Aber wie das Volk an der toten
Natur des Grund und Bodens seinen Charakter
bildet, wie, um das näher zu veranschaulichen,
der Bergbewohner eine andere Gestalt, andere
Gesichtszüge, andere Gemüts= und Geistesanlagen,
andere Bedürfnisse, andere Sitten, andere Klei-
dungen von seinen Bergen annimmt alsder Flächen-
bewohner von seinen Heiden, so erhält auch der
Grund und Boden seine besondere Gestaltung
durch das ihn bearbeitende Volk. Daraus ergibt
sich, daß in den verschiedenen Staaten die wirt-
schaftliche Behandlung des Grund und Bodens
nie dieselbe sein kann und wird, daß es ein absolut
richtiges Agrarsystem nicht gibt, daß beide unter
gewissen Voraussetzungen ihre, wenn auch nicht
volle, Berechtigung behalten.
II. Die Agrarverfassung des Altertums.
Die Mängel und Irrtümer, welche im Altertum
auf diesem Gebiet der Gesetzgebung zutage getreten
sind und Störungen wie gewaltsame Umwälzungen
im Staatsleben erzeugt haben, kehren auch bei
den christlichen Völkern vielfach wieder, bei den
romanischen und germanischen so gut wie bei den
slawischen. „Werfen wir einen prüfenden Blick
auf die gesamte innere Politik der Hauptstaaten
des Altertums“, so sagt P. Reichensperger (Die
Agrarfrage aus dem Gesichtspunkt der National-
ökonomie, der Politik u. des Rechts, 1847), „so