Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Willkürlichkeit der Dauer der geschlechtlichen Ge- 
meinschaft. Eine längere Dauer über den Akt der 
Erzeugung des Kindes hinaus verlangt schon die 
in diesem Hauptzweck mitenthaltene Aufgabe der 
Erziehung. Die Unauflöslichkeit des Ver- 
hältnisses vollends fordert das Wesen der ehelichen 
Liebe, die nur dann eine wahre, über alle Wechsel- 
fälle und Schwierigkeiten triumphierende Lebens- 
gemeinschaft begründen kann, wenn sie das Prin- 
zip der unbeschränkten Dauer in sich trägt. — 
Als natürlichstes und einfachstes soziales Gebilde 
ist die Ehe die Grundlage aller gesellschaftlichen 
Verbände, der Familie, der Gemeinde, des Staats, 
also auch die Grundlage aller menschlichen Rechts- 
ordnung. Soll diese selbst bestehen, so ist die Ehe 
hinwiederum ihr erstes und notwendigstes Objekt. 
Der mächtige Geschlechtstrieb bedarf zu seiner 
Reglung, zu seiner Hinordnung auf die Zwecke 
der Gesellschaft der dieser eigentümlichen, recht- 
lichen Normierung. Die sittlichen Ehenormen be- 
dürfen der Festigung und des Schutzes durch die 
Gesellschaft selbst, wenn sie für deren Gesamtheit 
Wert haben sollen. Die Ehe ist also ein recht- 
liches Institut, kommt auf Grund rechtlicher 
Voraussetzungen durch ein Rechtsgeschäft, einen 
Vertrag von Mann und Weib, zustande und hat 
rechtliche Wirkungen: sie ist ein Rechtsverhältnis. 
— Die Ehe hat schließlich einen religiösen 
Charakter. Ist der einzelne Mensch von Natur 
ein religiöses Wesen, im Dienst Gottes stehend, 
so muß man dies auch von der Ehe sagen, der 
innigsten Lebensgemeinschaft zweier Menschen, die 
mit der Fortpflanzung des Geschlechts in beson- 
derer Weise den Absichten Gottes dient, ja an 
seiner Schöpfertätigkeit teilnimmt. In der gött- 
lichen Offenbarung erscheint sie denn auch als 
förmliche Stiftung Gottes, von ihm selbst in 
ihrem Wesen dem Stammvater des Menschen- 
geschlechts erklärt und mit seinem besondern 
Segen ausgestattet (1 Mos. 1, 27f; 2, 22 ff vgl. 
mit Matth. 19, 4 ff). 
2. Der hier dargelegte Ehebegriff ist nicht, wie 
Vertreter der modernen Entwicklungstheorie dar- 
tun wollen, das Ergebnis einer langen Ent- 
wicklung, an deren Anfang die geschlechtliche 
Verbindung von Mann und Weib als ein nur 
durch den Naturtrieb beherrschtes Verhältnis steht 
und in deren Verlauf erst sie nach und nach die 
ethischen, religiösen und rechtlichen Elemente der 
Ehe in sich aufnahm. Vielmehr ist der Begriff 
der Ehe als von Anfang an mit allen ge- 
nannten wesentlichen Merkmalen ausgestattet an- 
zunehmen. Die Ethnologen (Bachofen, Lubbock, 
Morgan, Dargun, Kohler u. a.), die für den Be- 
ginn der Menschheitsgeschichte schrankenlose ge- 
schlechtliche Promiskuität, völlige Ungebun- 
denheit des Geschlechtsverkehrs (Hetärismus) be- 
haupten, aus der sich bei steigender Kultur der 
Reihe nach die Horden= oder Gruppenehe 
(Totemismus), die Polyandrie (Matriarchat, 
Mutterrecht), die Polyg ynie und schließlich die 
Ehe und Eherecht. 
  
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Einehe entwickelt habe, sind hierfür einen zwingen- 
den Beweis schuldig geblieben und haben auch in 
den Kreisen der Fachgelehrten (Ratzel, Peschel, 
Starcke, Westermarck) begründeten Widerspruch 
gefunden. Das von jenen Forschern beigebrachte 
Material, soweit man es als an sich zuverlässig 
anerkennen darf, mag immerhin das Vorkommen 
dieser verschiedenen Sexualverhältnisse bei ge- 
wissen Völkern beweisen, Die behauptete Notwen- 
digkeit und regelmäßige Aufeinanderfolge dieser 
Entwicklungsphasen beweist es nicht. Sofern man 
als Typen der Entwicklung nicht verkümmerte und 
zurückgegangene, sondern die für die Geschichte 
der Menschheit bestimmenden, gesunden Völker- 
stämme heraushebt, ist eher ein umgekehrter Gang 
oder ein Auf= und Abwärts der Ehegeschichte fest- 
zustellen. — So erscheint — um mit den semi- 
tischen Völkern zu beginnen — schon in einer der 
ältesten Rechtsquellen, in dem babylonischen 
Gesetzbuch Hammurabis (um 2250 v. Chr.), die 
Ehe als rechtlich geordnetes Verhältnis, und zwar 
ist, wenn auch nicht die alleinige, so doch die 
Grundform die monogamische Ehe. Nur zur Er- 
reichung ihres Hauptzwecks, der Kindererzeugung, 
ist es gestattet, außer der Hauptfrau eine von 
dieser gestellte Magd oder eine Nebenfrau zu sich 
zu nehmen. Von einem Mutterrecht findet sich 
keine Spur. Weniger klar als das monogamische 
leuchtet das Unauflöslichkeitsprinzip in dem ham- 
murabischen Eherecht durch; doch ist das Schei- 
dungsrecht des Mannes kein ganz willkürliches, 
sondern ein durch gewisse Kautelen zugunsten der 
Frau beschränktes. — Nicht auf gleicher Höhe 
mehr steht die Ehe bei den Hebräern. Hier 
zeigt sich deutlich ein Niedergang von der in der 
älteren Zeit meist üblichen Bigamie zur völligen 
Polygynie wenigstens der Reichen und Vor- 
nehmen, wenn auch aus wirtschaftlichen Gründen 
die Monogamie bei der großen Masse des Volks 
die Regel blieb. Auch darin zeigt sich die Rück- 
bildung, daß, während zunächst nur ein Weib als 
die eigentliche Ehefrau erscheint, die Magd, mit 
der der Mann verkehrt, ihm von der Frau selbst 
zugeführt sein muß, später die gänzliche Gleich- 
berechtigung der verschiedenen Frauen eintritt. 
Das moseische Recht, das sonst zahlreiche Ehe- 
verbote enthält, setzt die Polygynie voraus, ohne 
sie zu verbieten. Die gleiche Duldung übte es 
„wegen der Herzenshärtigkeit der Juden“ bezüglich 
der Ehelösung. Zwar erscheint die hebräische Ehe 
im Prinzip durchaus als Dauerehe, doch gesteht 
das Deuteronomium in weitgehendem Maß dem 
Mann das Recht des Scheidebriefs zu. — Höher 
als bei den orientalischen stand die Ehe bei den 
abendländischen Kulturvölkern des Altertums. In 
Griechenland war die Vielweiberei zwar nicht 
gesetzlich verboten, wurde aber doch wenigstens von 
den erleuchteteren Geistern als sittlich minderwertig 
angesehen, und die Monogamie war Grundsatz und 
Regel. Das Prinzip der Unauflöslichkeit, das in 
der ältesten Zeit feststand, wurde auch hier später
	        
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