Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

1393 
Geistlichen (Personenstandsgesetz § 67) war nur für 
den Fall lebensgefährlicher Erkrankung eines der 
Verlobten aufgehoben (Einf.Ges. Art. 46 Nr III). 
Eine wirkliche sachliche Errungenschaft war die 
im Scheidungsrecht geschaffene, allerdings einge- 
schränkte Möglichkeit der bloßen Aufhebung der 
ehelichen Gemeinschaft statt der völligen Scheidung. 
Dagegen haben die beiden andern Zugeständnisse 
nur formale Bedeutung und sind vielfach über- 
schätzt worden. Die Abschnittüberschrift „Bürger- 
liche Ehe“ kann und will nicht bedeuten, daß es 
neben der im Gesetzbuch behandelten bürgerlichen 
eine zweite, von ihr verschiedene kirchliche Ehe gebe. 
Sie soll besagen, daß hier nur die bürgerliche Seite 
der (einen) Ehe geregelt werde. Aber diese bürger- 
liche Ehe erschöpft die rechtliche Seite der Ehe 
überhaupt, sie will die Ehe im rechtlichen Sinn 
sein, wie denn auch das Gesetzbuch im übrigen nur 
von der Ehe schlechthin spricht. Danach ist auch 
das weitere Zugeständnis, der dem sog. Kaiser- 
paragraphen (82) des Personenstandsgesetzes nach- 
gebildete § 1588 (8. Titel) zu beurteilen, der 
erklärt, daß die kirchlichen Verpflichtungen in An- 
sehung der Ehe durch die Vorschriften dieses Ab- 
schnitts nicht berührt werden sollen. Es können 
unter diesen kirchlichen Verpflichtungen keine andern 
als die Vorschriften verstanden sein, die den staat- 
lichen nicht widersprechen. Tatsächlich werden im 
Gesetzbuch in manchen Punkten kirchliche Bestim- 
mungen nicht nur berührt, sondern durchbrochen, 
und Ehegatten unter Umständen von Rechtspflichten 
entbunden, die zugleich kirchliche Pflichten sind. 
Der 8. Titel ist also nur als Höflichkeitsformel zu 
bewerten und hat keinen juristischen Inhalt. 
3. Die Zivilehe kann, wie schon der geschicht- 
liche Uberblick zeigt, von verschiedener rechtlicher 
Natur sein. Während der rein katholische Staat 
keinen triftigen Grund hat, dem wohlgeordneten 
kirchlichen Eherechtssystem ein eigenes zur Seite 
oder entgegenzustellen, muß zugegeben werden, daß 
der moderne Staat mit konfessionell gemischter 
Bevölkerung bezüglich des Eherechts in einer 
Zwangslage ist. Wenn gewisse Konfessionen, die 
er nach dem Prinzip der Toleranz zuläßt, ent- 
weder die eigene Reglung des Eherechts ablehnen 
oder nur unzureichende oder unzuträgliche eherecht- 
liche Bestimmungen besitzen, ist der Staat ge- 
nötigt, ein eigenes Eherecht zu schaffen, da er auf 
Grund der Parität z. B. die akatholischen Unter- 
tanen nicht der Jurisdiktion der katholischen Kirche 
überlassen kann. Wenn so der Staat den Nicht- 
katholiken die Eheschließung vor seinem Beamten 
ermöglicht, spricht man von relativer Notzivil- 
ehe. Sie wird zur absoluten, wenn sie auch Katho- 
liken offensteht, denen die kirchliche Eheschließung 
verweigert wird. Wenn schon diese letzte Art die 
Verachtung der kirchlichen Bestimmungen möglich 
macht, so noch mehr die fakultative oder Wahl- 
zivilehe, indem sie allen Katholiken wie Nicht- 
katholiken die zivile oder kirchliche Eheschließung 
freistellt. Immerhin tritt die Wahlzivilehe der 
Ehe und Eherecht. 
  
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kirchlichen Ehe nur als gleichberechtigt gegenüber, 
während die dritte Art der bürgerlichen Ehe, die 
obligatorische oder Zwangszivilehe, die allein- 
berechtigte Form der Ehe sein will. Ergibt sich 
jene mit einer gewissen Notwendigkeit aus dem 
Prinzip der Gewissensfreiheit, so trägt diese einen 
geradezu kirchenfeindlichen Charakter; sie bedeutet 
die Trennung von Staat und Kirche auf dem 
Gebiet des Eherechts. „Indem der Staat das 
Rechtsinstitut der Ehe nach seiner Weise regelt, 
und zwar erschöpfend, seine Voraussetzungen, seine 
Wirkungen und regelmäßig auch seine Endigungs- 
gründe, und hiernach allein die Existenz oder Nicht- 
existenz einer Ehe beurteilt, läßt er der Kirche von 
der rechtlichen Seite der Ehe so gut wie nichts, 
höchstens noch ihre moralische Beurteilung und 
religiöse Weihe. 
Vonm kirchlichen und auch vom sittlichen Stand- 
punkt aus betrachtet, ist deshalb das Zivileherecht 
ein großes Ubel. Manche kirchlich unerlaubte, ja 
ungültige Ehe gestattet es und stellt es mit der 
kirchlich erlaubten und gültigen auf eine Stufe; 
kirchlich gültige Ehen sind nach ihm unter Um- 
ständen nichtig oder anfechtbar und darum trenn- 
bar, kirchlich unlösbare Ehen durch Scheidung 
lösbar. Es kann nicht geleugnet werden, daß da- 
durch der wahre Begriff der Ehe als eines sittlich- 
religiösen, heiligen Instituts im Volk allmählich 
verwischt und ihre Bedeutung für das Volkswohl 
geschwächt wird. Auch dem Prinzip der Gewissens- 
freiheit wird die bürgerliche Ehegesetzgebung nicht 
gerecht. Denn da sie vom kanonischen Recht nicht 
bloß abweicht, sondern in gewissen Fällen seine 
Übertretung fordert (z. B. die Fortsetzung der Ehe 
trotz kirchenrechtlicher Nichtigkeit, ein Eheschei- 
dungsurteil trotz kirchenrechtlicher Untrennbarkeit), 
bringt sie Katholiken in Konflikt mit ihrer Kirche 
und ihrem Gewissen. 
Die Kirche muß gegenüber diesem Zivileherecht 
des modernen Staates, wenn sie sich nicht selbst 
aufgeben will, auf der weiteren Geltung ihrer Ehe- 
gesetzgebung und Ehegerichtsbarkeit für Christen 
bestehen. Sie fordert demnach von ihren Gläu- 
bigen vor allem die Beobachtung ihrer Ehegesetze 
und in strittigen Fällen die Anrufung ihrer Ge- 
richte, zumal der Staat in der Regel dies nicht 
hindert. Sie duldet aber, ja sie verlangt unter 
Umständen, damit die Katholiken nicht der bürger- 
lichen Rechtswohltaten verlustig gehen oder straf- 
rechtlichen Folgen sich aussetzen, die Befolgung 
auch der zivileherechtlichen Bestimmungen und ihre 
Geltendmachung im Zidvilprozeß, jedoch nur, 
soweit dies ohne Verletzung des christlichen Ehe- 
begriffs und der wesentlichen Rechte der Kirche 
Möglich ist. 
Katholiken haben daher die zivilrechtlichen 
Erfordernisse der Eheschließung zu erfüllen, auch 
wenn sie über die kirchlichen hinausgehen. Sie 
dürfen und sollen, wenn kein kirchliches Ehehinder- 
nis vorliegt, die Eingehung der Ehe vor dem 
Standesbeamten erklären, wenn das Zivilrecht sie
	        
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