Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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verlangt, müssen dabei aber sich bewußt und ge- 
willt sein, dadurch keine wahre Ehe mit ehelichen 
Wirkungen zu schließen, und deshalb die Ehe- 
schließung in der kirchlichen Form, die regelmäßig 
auch zur Gültigkeit erfordert ist, unverzüglich folgen 
zu lassen. Das Verbot des Staates, die kirchliche 
Tranung vor der zivilen vorzunehmen, haben die 
Pfarrer zu beachten. Dagegen ist es nicht erlaubt, 
Klagen, die das Band der Ehe betreffen, wie 
Nichtigkeits-, Anfechtungs= und Scheidungsklagen, 
vor dem staatlichen Gericht zu erheben, bevor die 
Ehe kirchlicherseits für nichtig erklärt oder gelöst 
ist. Es bliebe auch dann unerlaubt, wenn es nur 
um vermögenzsrechtlicher Vorteile willen ohne die 
Absicht der Wiederverheiratung geschähe. 
Schwieriger ist die Frage bezüglich des Ver- 
haltens der katholischen Standesbeamten, Richter 
und Rechtsanwälte, die durch ihren Beruf in die 
Lage kommen, in solchen Fällen mitzuwirken, wo 
das materielle kirchliche Eherecht übertreten wird. 
Die Assistenz des Standesbeamten bei der 
Eheschließung gehört zur Form eines zivilrecht- 
lichen Aktes, dessen Vollziehung nichts Unerlaubtes 
ist, sofern er nur nicht als wirkliche Eheschließung 
aufgefaßt wird und dabei der Wille und die Mög- 
lichkeit besteht, alsbald die kirchliche Eheschließung 
folgen zu lassen. Die Verlobten darüber zu be- 
lehren, wie sie diesen Akt vor ihrem Gewissen auf- 
zufassen haben, ist Sache der Kirche, nicht des 
Standesbeamten. Ebensowenig ist es seines Amtes 
zu untersuchen, ob ein kirchliches Ehehindernis 
besteht oder, wenn es bestand, gehoben ist. Viel- 
mehr hat er vorauszusetzen, daß die Verlobten die 
kirchlichen Vorschriften kennen und danach handeln, 
selbst wenn das Gegenteil der Fall zu sein scheint. 
Im Deutschen Reich ist zudem ein Hinweis auf die 
kirchliche Trauung angeordnet. Es ist demnach 
grundsätzlich auch einem Katholiken erlaubt, die 
Tätigkeit eines Standesbeamten auszuüben. — 
In Sachen derchristlichen Ehe zu urteilen, ist nach 
den oben entwickelten Grundsätzen dem weltlichen 
Richter überhaupt verboten. Doch gestattet die 
Kirche, daß er Entscheidungen fälle, die dem kirch- 
lichen Eherecht nicht widersprechen. Der Richter 
dagegen, der eine kirchenrechtlich gültige und nicht 
gelöste Ehe für nichtig erklärt oder scheidet, begeht 
einen in sich unerlaubten Eingriff in das kirchliche 
und göttliche Recht, und zwar einen praktisch ein- 
schneidenderen als das Gesetz, auf das er sich stützt. 
Der Einwand, daß er nur die bürgerlichen Rechts- 
folgen aufheben wolle, ist nicht stichhaltig; denn 
die bürgerlichen sind zugleich auch kanonische Rechts- 
folgen. Unzutreffend ist auch die Behauptung, daß 
das richterliche Urteil ja nur erkläre, daß in dem 
zu entscheidenden Fall dieser oder jener Paragraph 
des bürgerlichen Gesetzes zutreffe. Dem steht die 
wesentlich konstitutive, Recht schaffende Natur der 
in Frage stehenden Urteile entgegen. Soweit es 
kann, löst dieses vielmehr dem Antrag des Klä- 
gers entsprechend das rechtliche Band der Ehe, 
hebt es die ehelichen Wirkungen auf und gestattet 
Ehe und Eherecht. 
  
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es die Wiederverheiratung. Das Urteil zerstört 
also Rechte und entbindet von Pflichten, die das 
kirchliche und göttliche Recht aufrechterhalten wissen 
will. Konsequenterweise hat denn auch der Apo- 
stolische Stuhl die an ihn gelangten Anfragen, ob 
es dem katholischen Richter erlaubt sei, derartige 
Entscheidungen zu fällen, verneinend beantwortet. 
Für den konkreten Fall istaber folgendes zubeachten. 
Der Apostolische Stuhl wollte ausgesprochener- 
maßen keine generelle, grundsätzliche Entscheidung 
treffen, vielmehr duldet er im allgemeinen und 
speziell auch für Deutschland die den Zivilehegesetzen 
entsprechende Tätigkeit der katholischen Richter. 
Deren Erlaubtheit wird auch trotz der römischen 
Entscheidungen noch von einer Reihe katholischer 
Autoren vertreten. Sicher ist die moralische 
Beurteilung des einzelnen Falles nicht nur von 
dem allgemeinen Prinzip, sondern auch noch von 
andern Umständen abhängig, die nicht hier, son- 
dern in der Moraltheologie zu erörtern sind. Jeden- 
falls muß aber der katholische Richter, wenn er 
seiner Amtspflicht sich nicht entziehen kann, sein 
möglichstes tun, um die kirchliche Auffassung der 
Ehe zum Ausdruck zu bringen und die klägerische 
Partei von ihrem Schritt zurückzuhalten. — 
Rechtsanwälten ist es regelmäßig nicht erlaubt, 
als Bevollmächtigte einer Partei Nichtigkeits-, 
Trennungs= und Scheidungsklagen im Wider- 
spruch mit dem Kirchenrecht zu führen, da sie die 
Vertretung ablehnen können. Nur in dem Fall, 
wo sie vom Gericht bestellt wären und sich nicht 
weigern könnten, wären sie in der Lage der Richter. 
In kirchenrechtlich zweifelhaften Fällen dürfen sie 
derartige Ehesachen unter der Bedingung an- 
nehmen, dafß sie oder die vertretene Partei zuerst 
eine kirchenrechtliche Entscheidung des geistlichen 
Gerichts herbeiführen und nur, wenn diese ihrem 
Antrag stattgibt, die Zivilklage durchfechten. Die 
Aussicht auf einen Vermögensvorteil ist kein 
Grund, um zur zivilrechtlichen Lösung der Ehe 
mitzuwirken. 
Literatur. v. Scherer, Handb. des Kirchen- 
rechts II (1898), §§ 109, 112 xyff, 136 viff; 
Schnitzer, Kath. Eherecht (1898) 5§ 6, 10/13; Leit- 
ner, Lehrb. des kath. Eherechts (1902) §§ 8, 12/15; 
Wernz, lus decretalium IV (Rom 1904), Tit. I, 
§ 2; Heuser u. (v. Moy) Bellesheim, Ehegesetz- 
gebung, in Wetzer u. Weltes Kirchenlexikon IV. 
(21886); Biederlack, Weltl. Ehegesetze u. ihre Gel- 
tung, in der Zeitschr. für kath. Theol. XVII (1893) 
645 ff; Bendix, Die deutsche Rechtseinheit (1894), 
Abschn. VII; derf., in den Hist.-polit. Blättern 
CXVII (1896) 345 ff 389 ff 726 ff; Freisen, Gesch. 
des kanon. Eherechts (21893), bes. Abschn. VI; 
Esmein, Le mariage en droit canonique 1 (Par. 
1891), I. partie, chap. 1; Friedberg, Das Recht 
der Eheschließung in seiner geschichtl. Entwicklung 
(1865), bes. 4. Buch; ders., Die Geschichte der Zivil- 
ehe (21877); Lingg, Die Zivilehe vom Standpunkt 
des Rechts (1870); Hergenröther, Die Zivilehe 
(1870); Lehmkuhl, Civilehe, in Wetzer u. Weltes 
Kirchenlex. III (21884); ders., Das B.G.B. des 
Deutschen Reichs, erläutert (531900), 4. Buch,
	        
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