Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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nun der Ehrgeiz als Erziehungsmittel grundsätzlich 
ausgeschlossen werden müsse. Das hieße auf ein 
Erziehungsmittel verzichten, das in sich selbst voll- 
kommen berechtigt ist, bloß weil es ungeschickte 
Erzieher gibt, die mit demselben nicht umzugehen 
verstehen. Nur die Ehrsucht ist unsittlich. Diese 
allein muß also ferngehalten werden, und deshalb 
hat der Erzieher sorgfältig darauf zu sehen, daß 
der Ehrgeiz in dem Kinde nicht in Ehrsucht um- 
schlägt. Dies geschieht dadurch, daß er das Mokiv“ 
der Ehre stets nur als sekundäres, unterstützendes 
Mittel gebraucht und das sittliche Motiv überall. 
an die erste Stelle setzt. Das Motiv der Ehre soll 
die Schwäche des jugendlichen Willens unter- 
stützen; aber es darf sich nie an die erste Stelle 
drängen. Diesen Grundsatz muß der Erzieher 
stets im Auge haben, und er muß auch die Kinder 
dazu anleiten, daß sie das Motiv der Ehre nur 
von diesem Gesichtspunkt aus als Beweggrund in 
ihr Handeln aufnehmen. Darum darf auch das 
Motiv der Ehre in der Erziehung nicht zu häufig 
in Anspruch genommen werden, weil sonst die 
Kinder leicht dazu kommen könnten, die Ehre, die 
ihnen zuteil wird, zu überschätzen und das sittliche 
Motiv aus den Augen zu verlieren. 
Die Ehre ist, wie wir gesehen haben, für den 
Menschen ein hohes, aber auch notwendiges Gut, 
weil er, wenn er nicht in Ehre bei andern steht, 
seinen irdischen Beruf nicht vollkommen erfüllen 
kann. Wie sich nun aber hieraus für den Men- 
schen die Pflicht der Ehrenhaftigkeit ableitet, so 
ergibt sich für ihn daraus auch das Recht auf 
seine persönliche Ehre. Er hat ein natür- 
liches Recht darauf, daß seine persönliche Ehre 
unangetastet bleibe, weil er nur unter dieser Be- 
dingung seinen Pflichten genügen kann. Diesem 
Recht nun entspricht auf seiten aller seiner Mit- 
menschen die Pflicht, seine Ehre zu achten und 
sie in keiner Weise zu schädigen. Es ist dies eine 
sittliche Pflicht, weil es sich da um ein Gut des 
Menschen handelt, das schon vom Standpunkt 
der Liebe aus nicht geschädigt werden darf; es ist 
aber auch eine Pflicht der Gerechtigkeit, weil der 
Mensch eben auch ein Recht auf seine Ehre hat. 
Es kann daher weder sittlich noch rechtlich gestattet 
sein, die Ehre des andern durch Beleidigung, Be- 
schimpfung, Verleumdung, Ehrabschneidung zu 
verletzen oder zu schädigen. Es ist dies nicht bloß 
Sünde, sondern auch Rechtsverletzung. 
Verhält es sich aber also, dann hat derjenige, 
der in seiner persönlichen Ehre tatsächlich geschä- 
digt oder verletzt worden ist, auch das natürliche 
Recht, auf Genugtuung zu dringen und die Wie- 
derherstellung seiner Ehre von seiten desjenigen, 
der sie verletzt hat, zu fordern. Derjenige, der die 
Ehre des Nebenmenschen geschädigt hat, ist ver- 
pflichtet, durch Zurücknahme und Widerruf dessen, 
was er gegen dessen Ebre vorgebracht hat, die- 
selbe wiederherzustellen. Es gibt hier ebensogut 
eine Restitutionspflicht wie beim Eigentum, wenn 
dieses widerrechtlich geschädigt worden ist. Die 
Ehre und Ehrenrechte. 
  
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Pflicht, die geraubte Ehre des Nebenmenschen 
wiederherzustellen, ist ebensogut eine Rechtspflicht 
wie die Pflicht, ihm sein geraubtes Eigentum 
wieder zurückzustellen. Noch mehr. Eben weil es 
sich hier um ein Recht und um eine Rechtspflicht 
handelt, darum ist es auch Sache der Obrigkeit, 
die Ehre derjenigen, die ihr unterstehen, zu schützen, 
und diejenigen, welche die persönliche Ehre anderer 
verletzen, zur Strafe zu ziehen und so den Aus- 
schreitungen der Selbsthilfe vorzubeugen (s. d. Art. 
Zweikampf). Es hat dementsprechend jeder, der in 
seiner persönlichen Ehre verletzt ist, das Recht, vor 
dem zuständigen Gericht Klage zu erheben und 
einerseits die Bestrafung des Verletzers seiner Ehre, 
anderseits die Erzwingung des Widerrufs seiner 
ehrverletzenden Außerungen von seiten des Gerichts 
zu fordern. Es kann dies unter Umständen für den 
in seiner Ehre Angegriffenen sogar eine Pflicht 
sein, die er sich selbst schuldet, wenn nämlich die 
Verhältnisse so liegen, daß er ohne öffentliche 
Wiederherstellung seiner Ehre entweder in seinen 
Interessen oder in seiner beruflichen Wirksamkeit 
dauernd geschädigt bliebe. 
Die Abstufungen der Ehrminderung im rö- 
mischen Recht (infamia, turpitudo, levis notae 
macula) nebst der hieraus folgenden Rechts- 
ungleichheit und die ähnlichen Unterscheidungen im 
deutschen Recht (Echtlosigkeit, Rechtlosigkeit, An- 
rüchigkeit) sind im neueren positiven Recht unter 
dem Einfluß des Chriftentums allmählich ganz 
beseitigt worden; die letzten Reste einer Recht- 
losigkeit oder Rechtsminderung infolge Berufs- 
oder Geburtsmakels schwanden erst im 19. Jahrh. 
Auch die Strafe des „bürgerlichen Todes“, welche 
bei den schwersten Verbrechen dem Verurteilten 
die Eigenschaften eines Rechtssubjekts entzieht, 
fand im Strafgesetzbuch des Deutschen Reichs von 
1871 keine Aufnahme mehr. Die persönliche Ehre 
ist nicht mehr durch Rechtsspruch verlierbar. Ihr 
Verlust infolge der individuellen Lebensführung 
macht sich juristisch nur indirekt geltend bei solchen 
Rechten, die eine intakte Ehrenhaftigkeit auch in 
bürgerlicher Hinsicht voraussetzen. 
2. Die bürgerliche Ehre ist begründet in 
den staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten, welche 
dem einzelnen zufallen, insofern er Glied der bür- 
gerlichen Gesellschaft ist. Wer im Vollbesitz der 
bürgerlichen Rechte ist und zugleich seine bürger- 
lichen Pflichten ehrlich und gewissenhaft erfüllt, 
der ist infolge dieser seiner bürgerlichen Stellung 
und dieses bürgerlichen Verhaltens achtbar, ist der 
Achtung anderer würdig, und diese seine Achtbar- 
keit nun macht seine bürgerliche Ehre aus. Während 
also die persönliche Ehre auf der sittlichen beruht, 
ist die bürgerliche Ehre auf der bürgerlichen Hal- 
tung des Individuums begründet. Aber beide 
hängen doch wiederum auf das innigste mitein- 
ander zusammen, weil derjenige, der es an per- 
sönlicher Ehrenhaftigkeit fehlen läßt, der in sitt- 
licher Beziehung sich nicht ehrenhaft führt, immer 
dadurch auch seiner bürgerlichen Ehre schadet.
	        
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