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entschieden werden. Der gerichtliche Eid ist ent-
weder ein freiwilliger, Haupt= oder
Schiedseid (i(uramentum voluntarium, con-
ventionale, litis decisorium), wobei eine Par-
tei erklärt, eine Behauptung aufgeben zu wollen,
wofern die Gegenpartei auf Antrag deren Unwahr-
heit beschwört, oder er ist ein notwendiger
((ur. necessarium) oder ein kraft gesetzlicher
Bestimmung zugelassener (iur. indiciale).
Der notwendige Eid findet sich als Ergänzungs-
eid (iur. suppletorium) zum Zweck der Vervoll-
ständigung einer Beweisführung und als Rei-
nigungseidb (ikur. purgatorium), dienend zur
Entkräftung eines nicht ganz gelungenen Beweises.
In der dritten Art (iur. judiciale) bezweckt der
Eid die verschiedensten Dinge, z. B. die Feststel-
lung, daß die eine Partei eine für den Prozeß
wichtige Urkunde nicht kenne noch besitze noch her-
ausgeben könne (iur. editionis), daß eine Urkunde
nicht authentisch sei (iur. diffessionis), daß ein
zu extradierendes Vermögen nicht mehr als an-
gegeben betrage (iur. manifestationis), höchste
Garantie für rechtzeitige und vollständige Zahlung
einer Schuld (iur. cautionis). Hierher gehören
ferner der Zeugeneid (iur. testium), der dem
germanischen Recht entnommene Eid der Eides-
helfer über die Glaubwürdigkeit eines Schwören-
den (jur. credulitatis), der Perhorreszenz= oder
Befangenheitseid (jur. perhorrescentiae) und
der heutzutage fast nur mehr beim Kanonisations-
und Beatifikationsprozeß vorkommende Kalum-
nien= oder Gefährdeeid (iur. calumniae), d. h.
der Eid, daß einer in einem Prozeß nicht aus
Schikane handle oder aus reiner Bosheit (jur.
malitiae) vorgehe (ugl. Hollweck-Hergenröther,
Lehrb. des kath. Kirchenrechts (219051 524 #.
Die kirchliche Eidesformel war nicht immer und
überall dieselbe. Doch ist im kanonischen Recht
seit dem 13. Jahrh. die Formel stehend geworden:
Sic me Deus adiuvet et haec sancta evan-
gelia — „So wahr mir Gott helfe und dieses
heilige (oder sein heiliges) Evangelium“ (c. 4 X
de jureiurando 2, 24).
In ausgedehntem Maß bedient sich bis auf
den heutigen Tag der Staat des Eides auf dem
Gebiet der Rechtspflege, des Verfassungs= und
Verwaltungsrechts. Im modernen Staat ist der
Eid Rechtsinstitut nur als feierliche Aussage vor
einer Behörde, nicht schon als Versicherung
unter Privaten. Rechtstechnisch betrachtet erscheint
der Eid zusammengesetzt aus der stereotypen Eides-
formel und der Eidesnorm. Die deutschen
Reichsprozeßordnungen und das Gerichtsver-
fassungsgesetz haben noch das religiöse Moment
des Eides beibehalten; es liegt in der Eidesformel.
Diese beginnt mit den Worten: „Ich schwöre bei
Gott dem Allmächtigen und Allwissenden“, und
schließt mit den Worten: „So wahr mir Gott
helfe.“ Zwischen Anfangs= und Schlußworte des
Eides ist die Eidesnorm eingebaut. Der Eid wird
mittels Nachsprechens oder Ablesens der die Eides-
Staatslexikon. I. 3. Aufl.
Eid.
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norm enthaltenden Eidesformel geleistet, er ist also
ein gestabter. Ist die Norm von großem Umfang,
so genügt die Vorlesung der Eidesnorm und die
Verweisung darauf in der Formel (N. Z.P.O.
§§ 481, 482). Liegt ein Defekt dieser wesentlichen
Formen vor, so ist der Eid nichtig. Nicht wesent-
lich ist die Erhebung der rechten Hand. Um im
Prozeß das strittige Recht möglichst rein zur Kri-
stallisation zu bringen, wie es der materiellen Lage
entspricht, bedient man sich des Eides zur Bekräf-
tigung der Aussagen und Gutachten der sog. Ur-
kundspersonen im Prozeß: Zeugen und Sach-
verständige werden grundsätzlich beeidigt. Eine
Frage der Rechtspolitik ist es, inwieweit man dieses
Prinzip durch Ausnahmen durchbricht. Grund-
sätzlich erstreckt sich der Eideszwang so weit, wie
die Aussagepflicht reicht. Eine Beschränkung ergibt
sich namentlich aus dem Zeugnis-bzw. Gutachten-
verweigerungsrecht. Kraft gesetzlicher Vorschrift
sind unbeeidigt zu vernehmen die strafweise Eides-
unfähigen, verstandesunreife und verstandesschwache
Personen und die Eidesunmündigen (Mündigkeits-
alter ist das 16. Lebensjahr); ferner Urkunds-
personen, dievon ihrem Aussageverweigerungsrecht,
das ihnen wegen naher Verwandtschaft zusteht,
keinen Gebrauch machen. Im letzten Fall steht die
Beeidigung im richterlichen Ermessen. Schließlich
sind noch unbeeidigt zu vernehmen solche, die zu
dem Prozeßgegenstand in unmittelbarer Beziehung
stehen (z. B. Gehülfen, Hehler, Bürgen). Im
Zivilprozeß steht übrigens die Vereidigung der
Zeugen und Gutachter allgemein zur Disposition
der Parteien, sie können durch Vereinbarung darauf
verzichten. Soweit die Eidespflicht der Urkunds-
personen im Prozef besteht, zieht ihre Verweige-
rung Kostenersatz und Ordnungsstrafen
(Geldstrafe oder Beugehaft) nach sich. Die Erklä-
rung des Schwurpflichtigen, nicht an den persön-
lichen Gott zu glauben, entbindet ihn nicht von der
Notwendigkeit, den Eid in der angeführten Form zu
leisten. Die Berufung auf ein Verfassungsgesetz,
das die Freiheit des religiösen Bekenntnisses garan-
tiert, kann hieran nichts ändern (vgl. L. v. Seuffert,
Kommentar zur Z.P.O. 11°1904) 669). Einen
Ersch für den Eid enthält 3. P.O. 8 484, wonach
der Eidesleistung gleichgeachtet wird, wenn ein
Mitglied einer Religionsgesellschaft, welcher das
Gesetz den Gebrauch gewisser Beteuerungsformeln
an Stelle des Eides gestattet, eine Erklärung unter
der Beteuerungsformel dieser Religionsgesellschaft
abgibt. So ist z. B. in Preußen, Bayern und
Württemberg den Mennoniten eine Befreiung vom
Eid gewährt. In Preußen müssen die Mennoniten
ein die übliche Bekräftigungsformel enthaltendes
Attest der Altesten der Gemeinde beibringen (Ver-
ordn. vom 11. März 1829), und die Philipponen
sprechen dortselbst unter Zuziehung eines Stariks
(Popeny in feierlicher Weise die Worte „Jey, Jey“
aus (Kabinettsorder vom 19. Nov. 1836).
Die Norm für den Zeugen= und Gutachtereid
ist in den beiden Prozeßarten die gleiche. Der
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